Tod am Zollhaus
ja sicher nichts und war schnell betrunken, lag nun in irgendeiner Kaschemme und wusste nicht mehr, wo er war. Ein junger, unerfahrener Mann konnte in einer großen Hafenstadt leicht verlorengehen. Aber sie wusste genau, dass das nur Wünsche waren.
Seit Freitagabend, als er ihr von seinem Besuch in der Fronerei berichtet hatte, war Voschering verschwunden. Niemand hatte ihn gesehen, seit er ihren Salon und das Herrmanns’sche Haus verlassen hatte.
Augusta hatte Angst.
Behrmann war tot. Martin kämpfte um sein Leben, von Voschering fehlte jede Spur. Wenn der anonyme Briefschreiber, von dem im Kaffeehaus gesprochen worden war, recht hatte, war er tot. Und sein Tod bestätigte, dass sein Besuch bei dem Komödianten jemandem gefährlich war. Behrmanns Mörder. Wem sonst?
Wenn er es nötig hatte, den harmlosen Hilfspastor zu töten, stand er mit dem Rücken zur Wand. Dann versuchte er verzweifelt alle, die dieser Serie von Verbrechen auf die Spur kommen konnten, zum Schweigen zu bringen.
Egal, aus welchem Grund und mit welchem Ziel er mordete, alles drehte sich um Claes. Und Claes würde der Nächste auf seiner Schreckensliste sein.
Warum hatte sie ihm nichts von ihren Nachforschungen erzählt? Natürlich hatte sie ihm gebeichtet, dass Voschering in ihrem Auftrag bei Jean gewesen war. Er hatte den Pastor ja auf dem Weg in ihren Salon gesehen und Aufklärung verlangt.
Aber alles andere hatte sie ihm verschwiegen. Weil er schon wegen Voscherings Kerkerbesuch gebrüllt hatte wie ein Brauerknecht. Vielleicht. Sie wollte ihn nicht noch mehr erzürnen.
Ach was, sie war feige gewesen.
Aber nicht nur. Sie spürte, wie sich Trotz in ihre Angst mischte. Sie wollte diese Sache zu Ende bringen, und dazu musste sie ungewöhnliche Wege gehen. Claes hätte das ganz gewiss verhindert.
Sie wollte ihn schützen. Ihn, Sophie und Martin. Ihre Familie. Und das konnte nur gelingen, wenn sie ihren Plan weiterverfolgte.
Aber wie?
Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter, und Augusta erstarrte. Sie hatte immer noch Angst. Wenn sie doch nur einen belebteren Treffpunkt gewählt hätte. In dieser verlassenen Kirche würde niemand …
«Frau Augusta?» Rosina glitt neben sie in die Bank und rutschte ein wenig zur Seite, damit auch Helena, die hinter ihr stand, Platz fand.
«Stimmt es, dass mein Pastor in Eurem Theater getötet worden ist?»
Sie sah die beiden jungen Frauen, die sie bis gestern noch als so schön, erstaunlich wohlerzogen und völlig vertrauenswürdig empfunden hatte, nicht an.
«Wenn Ihr von dem geheimnisvollen Brief gehört habt, habt Ihr gewiss auch erfahren, dass weder die Wache noch dieser schreckliche Mann mit seinem geifernden Untier einen Toten im Theater gefunden hat.»
Rosinas Stimme bebte. Augusta schlug ihr Tuch zurück und blickte sie streng an. Sie sah in zornige Augen und spürte die nur mühsam beherrschte Erregung.
«Glaubt Ihr jetzt auch, dass wir Mörder sind? Warum sollten wir ihn töten? Wer könnte brennender darauf warten, zu hören, was Euer Pastor von Jean erfahren hat als wir? Sagt mir, wer?»
Augusta nickte. «Ich vielleicht. Und Claes.»
«Wir haben immer noch das gleiche Ziel. Wir alle wollen wissen, warum Behrmann starb. Und wer ihn getötet hat. Aber vielleicht ist es besser, wenn wir gehen. Komm, Helena …»
Rosina erhob sich, aber Augusta hielt sie zurück.
«Vielleicht. Ja, vielleicht wäre es besser. Aber ich bitte euch zu bleiben. Ich habe euch vertraut, obwohl ich euch nicht kannte und euer Stand in dieser Stadt nichts gilt. Nein», sie zog Rosina wieder neben sich auf die Bank, «seid nicht zornig. Versucht, mich zu verstehen. Ich habe Angst, aber ich vertraue euch immer noch. Nicht, weil ich besonders klug bin, sondern weil ich glaube, dass mein Herz seine eigene Vernunft hat, der ich folgen kann.» Sie lächelte plötzlich. «Und weil wir einander immer noch brauchen. Ihr wollt euren Prinzipal beschützen, ich meinen Neffen.»
«Aber Ihr habt nicht gedacht, dass Ihr damit jemanden in Gefahr bringen könntet», sagte Helena sanft. «Nun habt Ihr Angst. Und Ihr fühlt Euch schuldig. Aber Ihr seid nicht schuldig, genauso wenig wie wir. Nur der ist schuldig, der diese Morde begangen hat. Und er wird weitermorden, wenn wir ihn nicht schnell finden.»
Rosina atmete tief, lehnte sich gegen die Bank und blickte starr geradeaus auf den kleinen Marienaltar. Sie war immer noch wütend, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Augustas Misstrauen kam nicht überraschend.
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