Tod am Zollhaus
Berg und weiter nach Altona ins Dänische führte. Bald bogen die beiden Frauen auf den Pfad ab, der durch die Wiesen zu den Häusern am Hamburger Berg rund um die Kirche St. Pauli führte.
Auch wenn Lies selbst zur Eile gemahnt hatte, blieb die Alte immer wieder stehen und beugte sich über ein paar grüne Stängel. Meistens strich sie nur leicht über das zarte Grün, aber manchmal schnitt sie mit einem winzigen scharfen Messer ein paar Blätter ab und steckte sie behutsam in eines der Leinenbeutelchen, die sie an ihren Gürtel gebunden hatte.
«Wird sie es uns erzählen, wenn sie etwas weiß?», fragte Rosina.
«Vielleicht.»
Lies beugte sich zu einer gelben Blume mit fünf glänzenden runden Blütenblättern und betrachtete sie aufmerksam.
«Der Hahnenfuß ist noch zu dünn», murmelte sie und ging weiter. Lies redete nie über Dinge, die niemand wissen konnte.
Rosina wusste nicht, dass Lies nicht so gelassen war, wie sie tat. Sie hatte sich still angehört, was Sebastian und Titus im Bremer Schlüssel erfahren hatten, und sofort gewusst, wen sie fragen musste, um mehr über Behrmanns Geburt zu erfahren. Die lag Jahrzehnte zurück. Behrmann war fast dreißig gewesen, genauer wusste es Jakobsen nicht, doch es war eine besondere Geschichte, und sicher war damals darüber geredet worden.
Der Weg zum Hamburger Berg fiel Lies schwer. Sie hatte lange nicht mehr an die Zeit gedacht, die sie in dem Haus an der dänischen Grenze verbracht hatte, und die Jahre nicht gezählt, die seither vergangen waren.
Das Kind wäre jetzt etwa so alt wie Helena. Aber es war ein Junge gewesen. Dass er tot geboren wurde, war ihr wie eine Gnade Gottes erschienen. Der Überfall auf der Straße bei Zwickau hatte ihre Freundin das Leben gekostet, Lies hätte es nicht ertragen, diesen Tod mit einem neuen Leben zu belohnen.
Sie hatte Männer nie begehrenswert gefunden. Und weil sie anders war als die anderen Frauen in ihrem Dorf, hatte sie beschlossen, ein anderes, freieres Leben zu führen, und war mit vorbeiziehenden Spielleuten davongelaufen. Als sie das Mädchen traf, das ihr zeigte, dass an ihrem Anderssein nichts Falsches war, begann sie zu leben. Mit dem Tod der Freundin starb alles in ihr, was gerade erwacht war.
Eine junge Hebamme fand Lies neun Monate später krank und halb verhungert am Elbhang. Lies hatte gedacht, dass sie an diesem fremden Fluss sterben würde, und es war ihr recht gewesen. Dennoch erschien ihr die Frau, die ohne viel zu fragen half und tat, was getan werden musste, wie ein Engel.
Bei der Geburt wäre Lies beinahe verblutet. Auch als es ihr besserging und sie wieder stark genug war, in ihr altes Leben zurückzukehren, schickte Matti sie nicht fort.
«Warum tust du das für mich?», fragte Lies.
«Es ist schön, nicht allein zu sein. Und weil du eine entfernte Cousine bist», sagte Matti und lachte. «Das glauben jedenfalls die Leute.»
Dann küsste sie Lies mitten auf den Mund, und das Leben begann doch noch einmal von vorn.
In diesem glücklichen Jahr am Hamburger Berg lernte Lies alles, was es über Kräuter, Wurzeln und die irdischen Heilkräfte zu lernen gab.
Dann ging sie fort. Der Grönlandfahrer, mit dem Matti verlobt war und der schon lange als verschollen galt, war zurückgekommen.
«Vielleicht ist sie nicht da», sagte Lies, als sie vor dem Haus standen. Es sah noch kleiner aus als damals. Nur die Linden links und rechts der Eingangstür waren zu mächtigen Bäumen herangewachsen.
Aber Matti öffnete die Tür. Sie war alt wie Lies, das Gesicht voller Falten, das Haar unter der Haube nebelgrau. Aber die Augen. Immer noch wie die ersten Veilchen.
«Lies», sagte sie, nichts weiter. Dann sah sie Rosina an und lächelte. «Sie gehört nicht dir.»
«Nein.» Lies schüttelte den Kopf. «Und dein Grönlandfahrer?»
«Verschollen», sagte Matti, «schon lange wieder verschollen. Diesmal endgültig.»
Rosina hatte nie ein solches Haus gesehen. Es war klein, aber statt der üblichen rußigen Feuerstelle wärmte ein kleiner runder Kachelofen die Stube, vor dem drei bequeme Sessel standen. Unter der Decke hingen Reihe um Reihe Büschel getrockneter Kräuter, viele freie Haken zeigten, dass der Winter nur Reste eines gewaltigen Vorrats übriggelassen hatte. In einem Schrank mit gläsernen Türen lagen ein paar dicke Bücher, zwischen den beiden vorderen Fenstern tickte eine Standuhr mit einem Zifferblatt aus poliertem Messing. Es duftete nach frischem Brot, Thymian und Minze, und auf dem Tisch
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