Tod am Zollhaus
Sie musste ihnen ja misstrauen. Alle misstrauten ihnen. Doch nun war nicht die richtige Zeit zum Selbstmitleid.
«Kanntet Ihr Behrmann gut, Frau Augusta?»
Augusta überlegte und schüttelte den Kopf.
«Wusstet Ihr etwas über seine Familie? Woher kam er?»
«Es ist komisch. Ich kenne alle Menschen in Claes’ Haus recht gut. Ich weiß, woher sie kommen, wer ihre Eltern sind. Auch von denen, die nicht bei uns wohnen, wie die Schreiber aus dem Kontor. Sie essen mittags mit uns und erzählen gerne von zu Hause. Aber Behrmann? Er war immer ein wenig spröde. Wenn er einmal sprach, ging es stets um das Geschäft. Er war ein wandelndes Kontobuch.»
Ein kalter Lufthauch zog durch die Kapelle, und Augusta sah sich um. Von ihrer Bank konnte sie das Kirchenportal und den Mittelgang überblicken. Mehr nicht. Doch sicher hätte sie Schritte gehört, wenn jemand die Kirche betreten hätte. Nicht alle verstanden so lautlos zu gehen wie die beiden Komödiantinnen.
Seit sie heute Morgen das Haus am Neuen Wandrahm verlassen hatte, fühlte sie sich beobachtet. Aber das war sicher nur ihr schlechtes Gewissen. Es war nicht einfach gewesen, unbemerkt von Claes’ Wächtern aus dem Haus zu schleichen. Augusta war nicht an Heimlichkeiten gewöhnt. Dennoch bedeutete sie Helena und Rosina, leiser zu sprechen. «Einmal hat Behrmann doch etwas verraten», fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. «Er erzählte von Eppendorf. Ihr werdet das nicht kennen, ein hübscher Weiler nördlich der Wälle. Ich glaube, er lebte dort bei einer Tante. Aber sie war alt und ist schon lange tot.»
«Wisst Ihr, wer seine Eltern sind?»
«Nein, aber Claes wird es wissen. Ist das wichtig?»
«Vielleicht», sagte Rosina vorsichtig. Aber dann berichtete sie, was im Bremer Schlüssel erzählt wurde und was Matti von der Winterhuder Hebamme erfahren hatte.
Augusta sah sie fassungslos an.
«Mein Bruder? Mein frommer, ehrbarer Bruder? Das ist ganz unmöglich.»
«Es gibt keinen Beweis, im Kirchenbuch ist kein Vatername verzeichnet, und es wird ja immer geklatscht. Aber viele Herren schwängern ihre Mägde.»
«Ich bin kein Kind, Rosina. Ich weiß sehr genau, was die Herren tun, auch wenn sie glauben, dass wir gar nichts wissen. Aber mein Bruder, dieser Moralapostel!»
Sie schüttelte den Kopf und lachte plötzlich laut auf.
«Warum eigentlich nicht? Ich habe mich immer gefragt, wie einer mein Bruder sein kann und so ohne Leben. Dann war er wohl doch nicht so ohne Leben. Aber was kann das mit Behrmanns Tod zu tun haben?»
Rosina sah auf ihre Hände und schwieg.
«Das wissen wir auch nicht», sagte Helena schnell. «Vielleicht ist es ganz ohne Bedeutung. Aber nun sagt uns doch, was Jean dem Pastor erzählt hat. Ihr habt doch mit ihm gesprochen, bevor, bevor …»
«… bevor er verschwand. Oder bevor ihn jemand getötet hat. Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Er ist direkt von der Fronerei zu mir gekommen. Wenn ihn jemand wegen dieser Kleinigkeit getötet hat, war es ein billiger Tod.»
Behrmann, erzählte Augusta, war an diesem Abend ein Opfer der Melancholie gewesen. Offenbar plagte ihn ein großer Kummer und, wenn Jean ihn richtig verstanden hatte, eine große Schuld. Jean und Behrmann hatten gewürfelt, getrunken, viel zu viel getrunken, und je mehr Branntwein er trank, umso mehr redete der Schreiber von einer großen Sünde, die er gegen seinen Bruder oder einen, den er so nannte, begangen habe.
Jean hatte sich mehr für sein Würfelglück interessiert und nicht richtig zugehört. Aber er hatte Voschering versprochen, noch einmal ordentlich zu grübeln, um die dunkle Wolke des Vergessens zu erhellen, genau so hatte er sich ausgedrückt, zu erhellen. Jean war sicher, dass er mehr berichten könnte, wenn Voschering am nächsten Tag wiederkäme.
«Das wollte Voschering tun, und ich befürchte, er ist deshalb verschwunden. Er hat mir versprochen, dass dieser Besuch unser Geheimnis bleibt, aber er muss doch jemandem davon erzählt haben. Gewiss versteht ihr, wenn ich niemand anderen bitten kann, nun statt seiner zu eurem Prinzipal zu gehen.»
«Gewiss», sagte Helena und Rosina nickte.
Augusta erzählte nicht, dass sie Claes noch vor wenigen Tagen vergeblich gedrängt hatte, Jean selbst zu befragen. Es sähe ihm ähnlich, wenn er es jetzt, wo so ein Besuch gefährlich war, tun würde. Sie wollte ihn nicht mehr daran erinnern.
«Uns lässt man natürlich nicht hinein», sagte Helena. «Wir haben es schon zweimal versucht. Die Fronknechte lachen uns nur
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