Tod an der Ruhr
öfter ich über sie nachdenke, desto weniger gefallen sie mir«, entgegnete Banfield.
»Ach«, sagte Kerseboom überrascht.
»Wer das Dreiklassenwahlrecht abschafft, der stützt doch letztlich nur die bestehende gesellschaftliche Ordnung«, stellte Banfield fest.
Jetzt redet er Unsinn, dachte Grottkamp hinter der Tür. Und Arnold Kerseboom sagte: »Das verstehe ich nicht.«
»Ferdinand Lassalle war der Auffassung, man müsste nur ein paar Reformen durchsetzen und staatliche Hilfen für die Arbeiterklasse erreichen, dann würden sich die sozialen Verhältnisse grundlegend verbessern. Aber das ist töricht. Es zögert die Revolution nur unnötigerweise hinaus.«
Also doch! Er bereitete einen Umsturz vor, dieser Banfield. Grottkamp saß vornüber gebeugt mit offenem Mund auf seinem Hocker und lauschte angespannt.
Kerseboom war verdattert. »Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen hier eine Revolution anzetteln?«
Die Frage amüsierte Edward Banfield. »Das wäre unsinnig«, sagte er schmunzelnd. »Die Zeit ist noch nicht reif dafür. Aber die Revolution wird kommen. Zwangsläufig wird sie das. Da können Sie sich drauf verlassen.«
»Hier bei uns in Preußen?«, fragte Kerseboom ungläubig.
»In Preußen, in England, in allen europäischen Industriestaaten«, behauptete Banfield lächelnd. »Überall beutet die herrschende Bourgeoisie die Arbeitskraft des Proletariats aus. Und es wird so kommen, wie es in jeder Gesellschaft gekommen ist, in der eine Klasse eine andere unterdrückt hat.«
»Es wird in einer Revolution enden?«
»So ist es«, sagte Banfield fröhlich.
»Und danach werde ich dann zur herrschenden Klasse gehören«, nahm der Former an.
»Vorübergehend schon«, erklärte Edward Banfield amüsiert. »Es wird zur Diktatur des Proletariats kommen. Aber die ist nur eine Übergangslösung. Am Ende werden wir eine klassenlose Gesellschaft haben, in der es keine Unterdrücker und keine Ausgebeuteten mehr gibt.«
»Verrückte Ideen habt ihr Engländer«, murmelte Arnold Kerseboom kopfschüttelnd.
Aus Banfields amüsiertem Lächeln wurde ein ausgelassenes Lachen. Seine Heiterkeit überraschte Kerseboom und irritierte Grottkamp auf seinem Beobachtungsposten. Eine Revolution war eine ernste Angelegenheit, eine todernste. Was gab es da verdammt noch mal zu lachen?
Edward Banfield zog aus einer seiner Rocktaschen eine lederne Mappe, kramte durch die Papiere, die sich darin befanden, nahm eine Fotografie heraus und legte sie vor Kerseboom auf den Tisch.
»Das ist der Mensch, von dem diese verrückten Ideen sind«, sagte er grinsend.
Kerseboom sah sich das Bildnis an. Es zeigte einen stattlichen Herrn im langen Gehrock, der, neben einem Stuhl stehend, für den Fotografen posierte. Unter dem nach hinten gekämmten, schon ergrauten Haar des Mannes wölbte sich eine hohe Stirn. Die Nase war scharf geschnitten, der Vollbart dicht und dunkel. Ernst schaute er drein, dieser Herr, ja beinahe finster wirkte sein Blick auf Arnold Kerseboom.
»Ein vornehmer Mann«, befand er. »Einen Revolutionär hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.«
»Kennen Sie ihn nicht?«, fragte Banfield erstaunt.
Der Former schüttelte den Kopf. »Sollte ich das?«
»Sein Namenszug steht unten auf dem Foto. Er hat ihn selbst geschrieben, als er mir das Bild geschenkt hat«, erklärte der Engländer stolz.
»Kann ich nicht entziffern.« Kerseboom schob die Fotografie zurück zu Banfield.
»Das ist Carl Marx.«
»Ein Deutscher?«, wunderte der Former sich. »Diese verrückten Ideen sind von einem Deutschen?«
»Marx stammt aus Trier. Aber er lebt schon seit Jahren in London. Die preußische Obrigkeit hat ihn des Landes verwiesen.«
»Verständlich«, murmelte Kerseboom.
»Er hat zusammen mit Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei verfasst. Und zurzeit arbeitet er an einem Werk, das die Welt verändern wird. Da bin ich mir sicher. ›Das Kapital‹ wird es heißen. Der erste Band soll nächstes Jahr erscheinen.«
»Und woher kennen Sie diesen Marx?«
»Er lebt in London wie ich. Er ist im Zentralrat der Internationalen Arbeiter Association, die vor zwei Jahren in London gegründet wurde. Und ich habe die Ehre, ihn gelegentlich bei seiner Arbeit unterstützen zu dürfen. Außerdem schreibt er genau wie ich für verschiedene Zeitungen.«
»Sie sind also wirklich ein Journalist?«, fragte Kerseboom nach.
»Ja. Sprachen wir darüber nicht schon bei unserer letzten Begegnung?«
Arnold Kerseboom winkte Kaspar
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