Tod an der Ruhr
verlassen«, widersprach Martin Grottkamp, ohne sehr überzeugend zu klingen.
Paul ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Ich brauche einen zweiten Knecht«, sagte er entschieden. »Hin und wieder mal einen Tagelöhner zu beschäftigen, das reicht nicht mehr. Ein junger, kräftiger Kerl muss auf den Hof. Und wenn er ein Weib hat und es mitbringen will, dann soll’s mir auch recht sein.«
»Und was soll aus dem Sebastian werden?«
»Der wird sein Altenteil bei mir haben. Das ist doch wohl klar.«
»Dann wird’s demnächst ein wenig enger auf dem Grottkamphof. Und ein paar Mäuler mehr werden zu stopfen sein«, überlegte Martin.
»Das wollte ich dir sagen«, entgegnete Paul. »Aber dass du des Donnerstags und des Sonntags zum Essen kommst, das soll trotzdem so bleiben. Solange du willst.«
»Danke«, murmelte Martin. »Ich würd’s auch vermissen, wenn es nicht mehr so wäre. Die Mahlzeiten und all die Dinge, die die Mutter mir zusteckt – mal einen Kanten vom frischen Brot oder ein Stück Butter aus dem Fass, hin und wieder eine Ecke vom Speck oder von der Wurst – das spart schon so manchen Taler. Vor allem aber tut es gut, zweimal in der Woche nach Hause zu kommen und mit der Mutter und dem Bruder um den Tisch zu sitzen.«
»So soll es bleiben, Martin, so soll es bleiben. Wenn’s anders wäre, würde mir was fehlen, und der Mutter erst recht. Der Hof gibt ja genug her für uns alle. Und wenn ein neuer Knecht mitarbeitet, dann kann ich sogar noch ein paar Stück Vieh mehr halten. Platz im Stall und Futter gibt’s genug.«
»Sieben Kühe hast du zurzeit, nicht wahr?«
Paul nickte.
»Was glaubst du, wie viele Kühe es in Sterkrade gibt?«
Der Bauer Paul Grottkamp lachte herzhaft. »Manchmal hast du Ideen, kleiner Bruder, da möcht ich nur wissen, wie du auf so was kommst.«
»Solche Fragen stellt mir der Herr Gemeindevorsteher hin und wieder, wenn ich ihm morgens meine Aufwartung mache. Er hat’s halt mit den Zahlen. Sie spiegeln das Leben wider, sagt er immer.«
»Na, dann lass mich raten. Die großen Höfe, die haben vielleicht zehn Viecher. Dann gibt’s die mittleren und natürlich die vielen kleinen Kotten, in denen eine Milchkuh im Stall steht. Also, ich denke mal, so an die vierhundert.«
»Dreihundertsiebzehn Rindviecher gibt es«, sagte Martin Grottkamp.
»Nicht mehr?«, wunderte Paul sich.
»Bei der Viehzählung vor sechs Jahren, da waren es noch wesentlich mehr. Dafür gibt es in Sterkrade immer mehr Ziegen. Fünfhundertsechs sind es inzwischen.«
»Und was sagt uns das über das Leben?«
»Die Ziegen, die stehen in den kleinen Ställen der Arbeiterhäuser. Sie sind sozusagen die Milchkühe der Hüttenarbeiter. Sterkrade ist bald kein Bauerndorf mehr, verstehst du? Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann ist es bald«, Martin Grottkamp suchte nach dem passenden Wort, »dann ist es bald ein Fabrikdorf.«
Eine ganze Weile schwieg der Bauer Paul Grottkamp nachdenklich. Dann fragte er: »Wie viele Menschen leben eigentlich zurzeit in Sterkrade?«
»Das weiß ich im Moment nicht. Die Zahl ändert sich ja beinahe jeden Tag. Ich frage aber gerne Overberg danach. Der ist immer auf dem Laufenden.«
Ein paar Minuten später saßen die beiden Grottkamps am Tisch in der Lucht, Paul auf dem angestammten Platz des Bauern unterm Fenster, sein Bruder Martin ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Küche.
Die große Küche bildete den Mittelpunkt des niederrheinischen Bauernhauses. Sie war ringsum von den Kammern und der Deele umschlossen. Nur eine schmale Ausbuchtung, die Lucht, reichte bis zur Außenwand und zum einzigen Fenster, durch das Tageslicht in den Raum fiel.
Sybilla hatte das Mittagessen aufgetragen und war auf die Bank neben ihren Vater gerutscht. Hedwig Grottkamp, die Altbäuerin, saß den beiden gegenüber. Hunderte Male hatten die fünf Menschen in den vergangenen Jahren so miteinander um den Tisch gesessen, und doch war heute alles anders als sonst. Martin war es, als wäre Sybilla nie zuvor dabei gewesen, so sehr spürte er heute ihre Nähe, so sehr fühlte er sich von dieser Nähe bedrängt.
Der Bauer Paul Grottkamp sprach das Tischgebet. Sybilla füllte die Teller.
»Es schmeckt vorzüglich, Mutter«, stellte Martin schon nach dem ersten Bissen fest. »Du bist und bleibst die beste Köchin, die ich kenne.«
»Und du bist ein Schmeichler, mein Sohn. Wenn du es doch nur verstündest, deine Schmeicheleien an die rechte Frau zu bringen!«, sagte Hedwig Grottkamp lachend.
Weitere Kostenlose Bücher