Tod an der Ruhr
wohlhabender wurden, und blieb selbst ein armer Hund. Wenn die Grottkamps ihr Land nicht verkauften, dann würden es andere tun. Und als Hausbesitzer ließe es sich wohl besser von den alten Zeiten träumen, in denen Sterkrade noch ein Bauerndorf war.
Die Vorstellung, dass er mit dem Mietzins aus zwei Arbeiterwohnungen auf jährliche Einnahmen von rund vierhundert Talern käme und damit ein gemachter Mann wäre, gefiel Martin Grottkamp überaus gut. Vielleicht könnte er auch selbst eines Tages eine Hälfte des eigenen Hauses bewohnen. Eine Küche und eine Stube im Parterre, zwei oder drei Kammern im Obergeschoss, das wäre eine Menge Platz für einen Herrn Polizeidiener und seine Familie.
Er seufzte. So sehr war er in seine Gedanken vertieft, dass er, ohne es zu bemerken, an der Stelle vorbeigegangen war, an der vor drei Tagen der tote Julius Terfurth gelegen hatte. Vor dem Hagelkreuz blieb er stehen und sah lange zum leidenden Herrn Jesus empor. Sollte diese Welt denn wirklich nur ein Jammertal sein? Durfte er, der Polizeidiener Martin Grottkamp, denn nicht davon träumen, schon in diesem Leben einen kleinen Vorgeschmack auf das Paradies zu bekommen?
Er und Sybilla! Mein Gott, was Paul da angedeutet hatte, das war unendlich verwirrend. Die Tochter des alten Sebastian hatte er immer für so unerreichbar gehalten, dass er ihr nicht mal einen Platz in seinen Träumen gegeben hatte. Sybilla, ein eigenes Haus, vierhundert Taler im Jahr und eine Handvoll Kinder – nein, das wäre wohl zu viel. Das wäre nicht nur ein Vorgeschmack auf die Freuden des Jenseits, das wäre das Paradies auf Erden.
Als er weiterging in Richtung Dorf, sah er Jacob Möllenbeck von der Cholerabaracke kommen. Mit einem Freund über all das zu reden, das wäre vielleicht nicht das Schlechteste.
Doch schon während er Möllenbeck begrüßte, erkannte Grottkamp, dass den Heildiener eigene Sorgen plagten. Müde und betrübt sah der Freund aus, und als die beiden Männer wenig später auf dem Kirchplatz angekommen waren, hatte Grottkamp nichts erzählt von dem, was ihn bewegte. Stattdessen hatte er erfahren, dass eine junge Frau an der Cholera gestorben war und dass Jacob Möllenbeck den Tag verfluchte, an dem er beschlossen hatte, sich der Heilkunst zu widmen.
So ist diese Welt denn wohl doch ein Jammertal, dachte Grottkamp, als er neben dem Freund vor der Clemenskirche stand.
»Der Jacob und der Martin, das ist ja schön, dass ich euch beide hier treffe!« Dechant Anton Witte kam aus dem Gotteshaus und stürmte mit flatternder Soutane und ausgebreiteten Armen auf Möllenbeck und Grottkamp zu. »Ich war heute Morgen schon bei der Cholerabaracke, um mit dem Jacob zu sprechen, aber er war unterwegs. Ihr habt doch ein Weilchen Zeit für mich, oder nicht?«
Kurz darauf saßen die beiden Freunde mit Dechant Witte inmitten betörenden Rosenduftes im Garten des Pfarrhauses. Die Bank, auf der die drei Männer Platz genommen hatten, war auch an diesem frühen Septembernachmittag noch von blühenden Rosen umgeben. Sogar an der alten Klostermauer hinter ihnen kletterten sie empor.
»Dass Sie so einen schönen Garten haben, Hochwürden, das wusste ich gar nicht«, sagte Grottkamp bewundernd. »Das ist ja geradezu paradiesisch hier.«
Pfarrer Witte lächelte. »Der Martin! Er glaubt immer noch, das Paradies auf Erden finden zu können. Aber das gibt es nicht, mein lieber Junge. Schon vor dreißig Jahren habe ich versucht, dir beizubringen, dass in diesem Jammertal nur Rosen blühen, die voller Dornen sind. Daran erinnerst du dich wohl nicht?«
»Nein, Hochwürden.«
»Ihr wart meine ersten Kommunionkinder. Darum weiß ich’s noch so gut. Es muss anno vierunddreißig oder fünfunddreißig gewesen sein. Damals durfte ich als junger Kaplan zum ersten Mal die Kindlein auf die heilige Kommunion vorbereiten. Und ihr beiden wart dabei.«
Dechant Witte seufzte. Bedächtig strich er mit den Fingern über die violette Quaste seines Biretts, das er vom Kopf genommen und in seinen Schoß gelegt hatte. »Der Herr Heildiener und der Herr Polizeisergeant seid ihr nun geworden. Das ist doch was. Aber ihr wart schon damals auf geweckte Jungen, ihr beiden. Ja, ja, es macht mich immer wieder ein bisschen stolz, wenn meine Kinder es zu etwas bringen.«
»Jetzt übertreiben Sie aber, lieber Herr Pfarrer. Wenn ich Medizinalrat geworden wäre und ein Mittel gegen die Cholera entdeckt hätte, dann gab’s wohl einen Grund, stolz zu sein. Aber so wie die Dinge stehen, nun
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