Tod Auf Dem Jakobsweg
Löwenanteil bekommen. Wir wären gewiss nicht leer ausgegangen, hätten aber nicht genug geerbt, um eine wirksame Stimme im Aufsichtsrat zu haben. Doch du hast nach etwas anderem gefragt. Wie ich schon sagte, es ist viel einfacher. Bei allen Meinungsverschiedenheiten vertraute mein Vater Rudolf in privaten Angelegenheiten. Also hat er ihn gebeten, die Suche nach Dietrich zu organisieren, eine Detektei zu beauftragen oder was sonst in so einem Fall zu unternehmen ist. Das weiß ich von der Sekretärin meines Vaters.» Nina lächelte schmal. «Sie hat Rudolf nie gemocht und ist, seit ich denken kann, mit der Firma verheiratet. Wie im Bilderbuch- Sie setzt große Hoffnung auf meinen, nein, auf unseren Einfluss. Sie hofft immer noch, dass Dietrich gefunden wird.»
«Das heißt, dieser honorige Herr Pfleger hat deinen Bruder gefunden und es verheimlicht?»
«Mehr oder weniger. Ich habe ihn gefragt, und er hat gesagt, es stimme, mein Vater habe Dietrich suchen lassen, aber ohne Erfolg. Damit habe ich mich zufriedengegeben.
Zunächst. Er muss ihn gefunden haben, dann hat er es verheimlicht und entschlossen gehandelt. Ich hätte nie gedacht, dass der spießige honorige Rudolf es schafft, Kontakte zu, zu...»
«Zu Killern herzustellen?»
«Ja. So muss es doch sein. Wie sonst?»
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander bergauf, kein Blättchen warf mehr Schatten, und Leo dachte flüchtig daran, wie es Pilgern erging, die diese Etappe im Juli oder August auflegen — unvorstellbar. Da war noch eine Frage gewesen, etwas, das ihr in der vergangenen Nacht kurz vor dem Einschlafen eingefallen war. Jetzt fiel es ihr mal wieder nicht ein, die Hitze dörrte auch ihr Gehirn aus.
Endlich erreichten sie La Laguna de Castilla, das letzte Dorf der Provinz León und vor dem heutigen Ziel, wie die vorigen nur eine kleine Ansammlung von Häusern. Dort, in tausendeinhundertfünfzig Meter Höhe, versprach die Steigung sanfter zu werden, ein wenig jedenfalls. Während der letzten halben Stunde bis O Cebreiro stieg der Weg noch einmal hundert Meter an. Dann lag Galicien vor ihnen, weites, in grünen Wellen abfallendes Land. Bis Santiago und weiter bis ans Meer. Galicien mit dem Sternenfeld, dem campus stellae, das Land, das nach Jerusalem und lange Zeit auch vor Rom das bedeutendste Ziel der christlichen Pilger gewesen war.
Der Brunnen am Dorfausgang von La Laguna kam gerade recht. Gegen ihr Prinzip, die Flasche nie ganz zu leeren, um im Notfall wenigstens noch einen Schluck zur Verfügung zu haben, hatte Leo den letzten vor einer Viertelstunde getrunken. Das Wasser war sehr warm gewesen, fast heiß, sie lechzte nach frischem kaltem Wasser, am besten einem ganzen See voll. Hier stand einer der bei dem Ausbau des camino in den letzten Jahren neu angelegten Brunnen; eiskaltes Gebirgswasser schoss aus einem sauberen Rohr in ein steinernes Becken, das laute Plätschern klang wie Musik, zwei junge Männer hockten am Brunnenrand, ihre Rucksäcke neben sich im Staub, aßen grasgrüne Äpfel und sahen ihnen neugierig entgegen. Ein dritter hielt die Arme in das Becken getaucht und den Kopf unter den erfrischenden Strahl, ohne die Neuankömmlinge zu bemerken.
Es war kein Mann, es war eine Frau.
«Hedda», rief Leo verblüfft. Sie musste eine sehr lange Pause eingelegt haben.
Hedda fuhr auf, das Wasser lief ihr über Gesicht und Nacken, sie streifte hastig ihre Ärmel herunter. Zu spät, Leo hatte schon gesehen, was sie verbergen wollte, und erinnerte sich an eine einige Tage zurückliegende Szene. Auch da war es heiß gewesen, beim Picknick im Halbschatten unter den Pappeln hatten alle längst ihre Jacken ausgezogen, wer keine Shorts trug, die Hosenbeine aufgekrempelt. Nur Hedda ließ die Ärmel ihres Hemdes an den Handgelenken fest zugeknöpft, obwohl sie erhitzt aussah wie alle anderen.
«Mensch, Hedda», hatte Helene gesagt, «zieh doch das Hemd aus, du bist ja gleich gar. Krempel wenigstens die Ärmel auf.»
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann sie Heddas Ärmelknöpfe zu öffnen, doch die riss unwirsch ihren Arm zurück.
«Lass das», sagte sie grob und schlug auf Helenes Finger. Sie fing sich gleich, entschuldigte sich und erklärte mit hochrotem Kopf, sie habe empfindliche Haut und wolle eine Sonnenallergie vermeiden.
«Dann solltest du vor allem einen Hut mit Krempe tragen», sagte Helene mehr verblüfft als beleidigt, «das Gesicht verbrennt zuerst.»
Jetzt am Brunnen hatte Leo gesehen, warum Hedda ihre vermeintlich
Weitere Kostenlose Bücher