Tod Auf Dem Jakobsweg
passiert. Er finde schon immer, man solle in stockdunkler Nacht schlafen und nicht durch die Berge spazieren, am wenigsten allein. Der Mensch sei nun mal kein Nachttier. Im Übrigen könne der Subinspektor Camilla nicht sprechen, sie sei mit ihrem Sohn für einige Tage ans Meer gefahren. Wohin genau? Das wisse er nicht, wahrscheinlich in die Nähe von Camariñas. Von Bergen habe sie dieser Tage genug. Er erwarte sie morgen zurück, allerdings erst gegen Abend. Hier in Santiago wohne sie zurzeit bei einer Freundin, Fabia Castro, ja, wie Fidel, allerdings schöner, jünger und demokratischer. Vielleicht besser wie Rosalia de Castro, die große Dichterin und Tochter seiner Stadt. Er solle sich bei Gelegenheit unbedingt ihr Denkmal nahe der Kirche der heiligen Susanna ansehen, es sei wirklich ergreifend. Bei Fabia sei Camilla dann zu erreichen.
Er hatte Prisa Adresse und Telefonnummer gegeben, ihm einen schönen Tag gewünscht und aufgelegt.
Dass Camilla Ruíz ihm Zeit bis morgen ließ, fand Obanos sehr angenehm. Es gab einiges zu erledigen, nicht zuletzt der von Prisa empfohlene besuch der Kathedrale.
Von Portomarín brachen wandernde Pilger zu ihren letzten, je nach Kondition vier oder fünf Tagesetappen auf. Dieses Stück des langen Pilgerweges verlief oft nahe der Landstraße, anders als in den einsamen Berglandschaften der Provinz Kastilien-León reihten sich entlang des galicischen Camino nun Dörfer wie an einer Perlenkette. Bescheidene Bauernweiler in saftig grünem, stetig ebener werdendem Hügelland, doch noch so weit voneinander entfernt, dass die Stille des Weges gewahrt blieb.
«Vor euch Luxuspilgern liegt nur noch eine Wanderung. Als Finale haben wir eine Strecke ausgesucht, die schöner und interessanter ist als die allerletzten Abschnitte», hatte Jakob beim Frühstück erklärt. «Ignacio fährt uns ein Stück zurück bis kurz vor Peruscallo, von dort wandern wir zum Belesar-See, dann bringt uns der Bus nach Santiago. Vor der Stadt machen wir einen kurzen Stopp, ihr werdet dort sehen, warum.»
Die Stimmung in der Gruppe erschien Leo an diesem Morgen anders als sonst. Es mochte an der Erwartung des nahen Ziels liegen, der Begegnung mit einem der bedeutendsten Orte der katholischen Christenheit. Vielleicht lag es aber nur an ihrem Wissen und der Verwirrung, die sie bei allein Bemühen um Vernunft und Geduld spürte. Es war reine Projektion, wenn sie sich während des Frühstücks von Hedda beobachtet gefühlt hatte. Als sich ihre Blicke getroffen hatten, hatte Hedda auf ihre scheue Art gelächelt und gefragt, ob Leo schlecht geschlafen habe, sie sehe müde aus. Eine ganz normale Frage ohne Arg oder Misstrauen.
Nur noch bis morgen, dann klärte sich alles.
Das Gehen fern jeden Trubels und Lärms empfand Leo auch heute als befreiend. Der Tag war wunderschön. Milde sommerliche Wärme und sanfter Wind — ideal für eine lange Wanderung. Die Stimmung war heiter, alle schritten energisch aus, nur Nina verbarg ihre Anspannung kaum, was aber niemand erstaunte. Schließlich hatte sie weit weg in Burgos einen sehr kranken Freund.
Jakob hatte nicht zu viel versprochen. Die starke Steigung am Beginn dieser Etappe hatte ihnen die Busfahrt erspart, zwar führte der Weg auf und ab, und gegen Mittag wurde jeder Schatten freudig begrüßt, doch nach den Anstrengungen in den Bergen glich die heutige Strecke einem Spaziergang. Auf den Wiesen standen wieder Störche, kreuzende Bäche waren auf Trittsteinen zu überqueren, Eichenwälder und knorrig verwachsene, urtümliche Maronenbäume muteten an, als hätten sie schon den ersten Jakobuspilgern Schatten gespendet.
Bei Brea stand der von allen Pilgern sehnlich erwartete Kilometerstein mit der Zahl 100 unter dem obligatorischen Muschelzeichen am Wegrand. Der sicher einen Meter hohe Granitblock war mit Nachrichten in vielen Sprachen vollgekritzelt, auf seiner glatten Oberfläche lagen wie am Cruz de Ferro kleine Steine aufgehäuft, dazwischen klemmten Zettel mit weiteren Nachrichten.
«Schade eigentlich», sagte Felix, als er sich hinunterbeugte, um die Grüße zu lesen, «nichts gegen unsere Gruppe, abgesehen von Benedikts Unfall läuft es ja prima. Aber wenn man den camino richtig wandert, trifft man während all der Wochen sicher eine Menge interessanter Leute aus aller Welt. Ich glaube, da können ganz besondere Freundschaften entstehen.»
Sven pflichtete ihm begeistert bei, was Helene wenig erbaulich fand. Für ihren Geschmack sprach er viel zu viel davon,
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