Tod Auf Dem Jakobsweg
den camino im nächsten Jahr von Anfang bis Ende zu pilgern mit Rucksack und Wanderstab, von Herberge zu Verberge. Sie genoss diese Reise sehr, aber nicht zuletzt, weil am Ende des Tages ein gutes Hotel wartete, jedenfalls meistens, der Bus ihnen die ungemütlichen Abschnitte ersparte, und überhaupt reichten ihr zwei Wochen in den klobigen Wanderstiefeln völlig. Sechs Wochen spartanisches Leben aus dem Rucksack entsprachen ganz und gar nicht ihrem Geschmack.
Die Dörfer mit ihren uralten kleinen Kirchen, den bescheidenen, hier und da auch dringend reparaturbedürftigen Gehöften sahen in der Pracht der sommerlichen Natur idyllisch aus. Wer darin lebte, mochte das anders empfinden. Einmal, am Ende eines Dorfes, schichtete ein junger Mann moderiges Stroh um. Der Blick, den er der Gruppe von Wanderern zuwarf, war dunkel, auf Felix’ launig hinübergeschicktes buenos días stieß er nur heftig die Forke in den Grund.
«Ach», seufzte Selma, «das Leben dieser einfachen Landleute ist beneidenswert. So unverfälscht und natürlich.»
Caros Einwand, was sie nenne, sehe verdammt nach Armut und alle Tage Schwerstarbeit aus, beeindruckte Selma nicht.
«Diese Menschen», erklärte sie in heiterer Ignoranz, «spüren das nicht so. Die sind ja nichts anderes gewohnt.»
«Das ist doch Blödsinn», sagte Hedda, die bisher zu solchen Debatten stets geschwiegen hatte, in scharfem Ton. «Kann sein, dass es im Mittelalter so war. Wer heute mit zwanzig die Steine vom Acker klauben muss und mit der Forke in der Hand im Mist wühlt, weiß ganz genau, dass es ein anderes Leben gibt. Eins, das er sich nicht leisten kann. So einer fühlt sich wie im Sumpf, festgenagelt und ohne Ausweg. Erzähl doch nichts vom Glück der Armut.»
Edith sah sie erschreckt an, doch Hedda ging schon mit langen Schritten voraus.
«Weißt du, was sie hat, Leo?», fragte Edith. «Du hast dich doch am meisten mit ihr unterhalten.»
Seit der letzten Nacht konnte Leo sich den Grund für Heddas überraschende Heftigkeit sehr genau vorstellen, doch sie zuckte nur die Achseln.
Der Alameda-Park westlich der Altstadt von Santiago und nur einen Katzensprung von den Gebäudekomplexen der nationalen wie der lokalen Polizeistationen entfernt, lag still in der Mittagssonne. Obanos schlenderte, genüsslich ein Eis schleckend, über die gepflegten Wege und spielte Tourist. Am meisten amüsierte ihn das auf einer der Promenaden stehende lebensechte Denkmal Las dos Marías , die Würdigung zweier Originale der Stadt aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Das exzentrische alte Schwesternpaar war täglich hier spazieren gegangen. Der Park mit seinen alten Bäumen, den Blumenrabatten und Pavillons stand für das 19. Jahrhundert, moderne Denkmäler und Skulpturen wie die der beiden alten Damen empfand Obanos als erheiternden Gegensatz. Galiciens Hauptstadt stand für mehr als den Santiago-Kult, die wenigsten Touristen fanden Zeit, das zu würdigen oder auch nur zu bemerken.
Am Spielplatz setzte er sich auf eine Bank und beobachtete die Kinder, es waren nur vier, alle im Alter zwischen vielleicht drei und fünf Jahren. Zwei Frauen, wohl ihre Mütter, unterhielten sich auf der Bank gegenüber, ohne ihre Sprösslinge aus den Augen zu lassen. Eine dritte saß allein in der Nähe des Klettergerüsts und las in einem Buch, ihr über die Schultern herabhängendes, kastanienbraunes Haar war auffallend lang. Gut möglich, dass auch Dietrich Webers Frau hier ab und zu ihren Sohn sich austoben ließ. Die Straße, in der Camilla und Fredo Ruíz Unterschlupf gefunden hatten, lag nur wenige Schritte entfernt, jenseits der mehrspurigen Avenida de Juan Carlos I. Für ein Kind, das die Freiheit der kastilischen Bergwelt gewöhnt war, mochte das wenig sein, aber besser als nichts.
Er hatte die Wohnung Fabia Castros schnell gefunden, aber nicht geklingelt. Es wäre auch überflüssig gewesen. Als er vor ihrer Tür stand, hatte eine Nachbarin ihm ungefragt erzählt, Señora Fabia, übrigens eine ganz reizende Person, wenn auch unverheiratet, was in ihrem Alter wirklich traurig sei, sei mit einer Freundin und deren Söhnchen verreist, ans Meer, sie sei wirklich zu beneiden. Obwohl es überflüssig war, hatte ihn die Auskunft, dass Camilla und Fredo Ruíz nicht alleine unterwegs waren, beruhigt.
Obanos sah auf die Uhr und erhob sich. Zeit zu gehen, er wurde erwartet und wollte pünktlich sein. Er beachtete den Mann mittleren Alters nicht, der sich von der anderen
Weitere Kostenlose Bücher