Tod Auf Dem Jakobsweg
Seite dem Spielplatz näherte, einen verstohlenen Blick auf ein Foto warf- bevor er es in die Innentasche seines Jacketts zurücksteckte. Er war ein unauffälliger Mann, nicht dünn, nicht dick, von mittlerer Größe, sein Haar dunkel und gepflegt wie seine Kleidung, vor den Augen trug er wie auch Obanos eine Sonnenbrille, unter seinem Arm klemmte eine Tageszeitung. Einer, den man sah, ohne sich später an ihn zu erinnern. Falls man ihm nicht allzu nah gekommen war. Doch wem das widerfuhr, hatte vielleicht später keine Gelegenheit mehr, sich zu erinnern.
Dieser so unauffällige Mann schlenderte die letzten Schritte bis zum Spielplatz, beobachtete eine junge Amsel bei der Futtersuche im Gras, blickte einem über den Rasen davonflatternden Schmetterling nach, sah sich endlich vermeintlich unschlüssig um und entschied sich für die Bank, auf der die einzelne Frau saß.
Er nickte ihr zu und faltete die Zeitung auseinander, doch er begann nicht zu lesen.
«Entschuldigen Sie», sagte er nach kurzem Zögern, «ich will Sie nicht belästigen, aber kann es sein, dass wir uns kennen? Aus dem hostal bei Foncebadón?»
«Ach», sagte sie und blickte ihn distanziert an, «ein Pilger. Nein, wir kennen uns nicht, schon gar nicht aus Foncebadón. Dort bin ich nie gewesen.» Sie schloss ihr Buch, stand auf und ging, ohne ihn noch einmal anzusehen, davon.
Der Mann, den sie nicht kannte, lehnte sich zurück und blickte durch die dunklen Gläser in den Himmel. Dann erhob auch er sich und schlenderte in die entgegengesetzte Richtung, bevor die anderen beiden Frauen auf ihn aufmerksam wurden.
Er war ein guter Beobachter, das gehörte unabdingbar zu seiner Profession. Dass es viele Frauen dieses Alters mit einer langweiligen Madonnenfrisur gab, hatte er nie bemerkt. Vielleicht lag es nur an diesem Ort.
Je näher Santiago de Compostela kam, umso größer wurde die Zahl der Pilger auf dem Camino. Schon in dem ganz auf Touristen eingestellten Restaurant in Ferreiros, für Leos Gruppe der Ort der letzten gemeinsamen Mittagsrast, war es schwer gewesen, für alle Platz zu finden. Wer keinen Stuhl mehr ergatterte, saß im Gras. Endlich doch eine echte Idylle.
Schließlich glitzerte wieder das tiefe Blau des Belesar-Sees in seinem langgezogenen Flusstal, wartete Ignacio zum letzten Mal am Jakobsweg mit dem Bus und sagte einen seiner wenigen deutschen Sätze: «Auf nach Santiago!»
Einige Kilometer vor dem Ziel klang noch einmal Jakobs Stimme aus den Lautsprechern.
«Wir passieren gerade Lavacolla, sicher habt ihr den Flughafen gesehen, euer Ziel für übermorgen. Im Mittelalter hatte der Ort eine ganz andere Bedeutung. In dem Flüsschen nahe dem Dorf legten die Pilger ihre Kleider ab, um sich zur Ehre des Apostels zu waschen, und zwar gründlich, von Kopf bis Fuß. Heute ist das nicht mehr nötig, in allen Pilgerherbergen gibt es Duschen. Da von dem Flüsschen nur ein trüber Bach übrig geblieben ist, würde ich auch dringend davon abraten. So gereinigt und erfrischt sollen damals etliche Pilger zu dem hinter Lavacolla ansteigenden Hügel, dem Monte de Gozo, Wettrennen veranstaltet haben: Wer ist zuerst oben und erblickt als Erster die Türme der Kathedrale mit der heiligen Reliquie? Den Rest des Weges legten viele barfüßig zurück, berittene Pilger stiegen von ihren Pferden und gingen zu Fuß. Ich würde euch weder das eine noch das andere empfehlen, heute ist die Stadt von großen Autostraßen eingekreist. Und jetzt sind wir da. Alles aussteigen — letzter Stopp vor Santiago.»
Die große Freifläche des Plateaus auf dem Monte de Gozo bot einen imposanten Ausblick über die im Tal liegende Provinzhauptstadt Galiciens. Santiago de Compostela, der Sehnsuchtsort auf dem Sternenfeld. Die Stadt mutete modern an, einzig die alles überragenden spanisch-barocken Türme der Kathedrale zeugten von der historischen Altstadt und ihrer bedeutungsschweren Geschichte. Tiefgraue, schwefelig-gelb geränderte Wolkenbänke schoben sich in den blauen Himmel und tauchten die Stadt in Schatten. Trotz des herben Dufts der nahen Eukalyptuswälder hatte die Luft ihre Frische verloren, sie hing warm und feucht wie eine dumpfe Glocke über dem Tal.
Es bedurfte geringer Phantasie, sich vorzustellen, wie die mittelalterlichen Menschen nach Wochen- oder monatelanger strapaziöser Wallfahrt durch ein wildes Land beim ersten Anblick ihres Ziels auf die Knie gesunken waren, um ihrem Gott, der Madonna und dem heiligen Jakobus zu danken, die ihr Leben
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