Tod Auf Dem Jakobsweg
unendlich lange Zeit in Anspruch genommen hatte, dachte sie vernünftig. Es mussten zahllose Arbeiter beteiligt gewesen sein, dazu die Schnitzer, Steinmetze, Glaskünstler, Zimmerleute, Goldschmiede oder Maler, deren Namen bis auf wenige vergessen waren. Das Übermaß an Prachtentfaltung ließ beinahe übersehen, dass dies kein Schloss oder Museum, sondern ein Gotteshaus war.
Egal, wenn die Gewölberippen den Erfordernissen der Statik dienten. Für Leo glichen sie in diesem Moment sich ausfächernden, schlank zum Himmel strebenden Ästen. Die alten Kultplätze fielen ihr ein, die Kraftzentren, die Eva so wichtig waren, die heiligen Bäume an manchen dieser Orte. Es war leicht, sich vorzustellen, dass solche Baumriesen zu den Ahnen der Kathedralen zählten.
Die Santiago-Kapelle auf der rechten Seite des Hauptaltarumgangs war in dieser Stadt Ziel der camino -Pilger, auch wenn sie heute zum Kirchenmuseum gehörte. Sie war eine der größten unter den neunzehn Seitenkapellen, Santa María de Eunate hätte problemlos hineingepasst. Als Erstes fiel Leos Blick auf die Statue eines kämpferischen Santiago im Hauptretabel, einzig identifizierbar an der Muschel auf seiner Brust. In kriegerischem Gewand mit wehendem, blutrot gefüttertem Umhang, den Degen in der erhobenen Faust, ritt er auf einem Schimmel und beugte sich in mörderischer Absicht zu zwei im Staub liegenden Mauren hinab. «Santiago Matamoros», Jakobus der Maurentöter.
Als christliche Heere in Spanien gegen die Mauren zogen, ruhten seine Gebeine der Legende nach schon knapp achthundert Jahre unter dem Sternenfeld in Galicien, doch der nach dem Neuen Testament als cholerisch bekannte Apostel war bei der Schlacht von Clavijo nahe dem Jakobsweg der beste Verbündete, die gerechte Sache zum Sieg zu führen. Auch die kriegerische Variante des Jakobus ist Legende wie die ganze Schlacht, ihre Verbreitung erwies sich als geschickter politischer Schachzug, sie machte den populären Heiligen zum ideellen Führer der reconquista, der Rückeroberung Spaniens von den Mauren, dieses Kreuzzuges auf westeuropäischem Boden.
Leo betrachtete den Apostel zu Pferd stirnrunzelnd. Der Künstler, der ihn erschaffen hatte, hatte ihm selbst in der Gestalt des Kriegers ein asketisch und entrückt blickendes Gesicht gegeben. Sie zog die Darstellungen Jakobus’ im Pilgergewand, wie sie sich überall entlang des camino fanden, trotzdem vor.
Gleichwohl spendete Leo in dieser Kapelle zwei Kerzen. Eine für Benedikt und eine für ihren Vater. Nachdem er ihre Mutter und besonders sie, seine einzige Tochter, verlassen hatte, hatte sie ihn mit verzweifelter, vermeintlich unerwiderter Liebe gehasst. Mit den Jahren war sie nachsichtiger geworden, und da er zwar wohlhabend, aber früh gestorben war, während ihre Mutter mit der zweiten Liebe ihres Lebens, dem absolut treuen und überaus gemütlichen Ludi, den Herbst ihres Lebens auf Gran Canaria zum Dauerfrühling machte, überdeckte nun die Erinnerung an den liebevollen Vater ihrer ersten zehn Jahre den alten Groll. Meistens.
Das Erbe, das er ihr hinterlassen hatte, mochte dabei geholfen haben, dieser völlig unerwartete Beweis, dass er sie eben doch nicht vergessen hatte. Es war eine Überraschung gewesen, sie und ihre Mutter hatten seit vielen Jahren nichts von ihm gehört, und jede hatte für sich versucht, ihn zu vergessen. Er war irgendwann verschwunden — wie sich später herausstellte, auf der Suche nach Erleuchtung in den Gebirgen Indiens. So blieb es, bis vor einigen Jahren der Brief von dem Züricher Anwalt kam, der mitteilte, Eleonore Peheim sei Erbin eines bescheidenen Vermögens.
Robert Peheim hatte sich als meditierender, doch veritabler Kapitalist erwiesen und in Indien billig produzierte Textilien, Schmuck und allerlei asiatischen Krimskrams nach Europa verkauft. Ob er Erleuchtung und inneren Frieden gefunden, ob er seine Sünden bereut oder gebüßt hatte, wusste sie nicht.
Sie hatte das Geld mit ihrer Mutter geteilt, es bescherte beiden keine arbeitsfreie, doch eine halbwegs gesicherte Existenz.
So erlaubte ihr das Erbe ein angenehmes Leben. Aber sie verstand es noch, wenn andere verlassene Kinder selbst im Erwachsenenalter zu keiner Versöhnung bereit waren und die verlorenen Eltern, ob Vater oder Mutter, hassten. Hass und Bitterkeit waren eine immer schwärende Wunde, sie war glücklich, dass ihre vernarbt war. Dank der Wärme und Verlässlichkeit ihrer Mutter schon, bevor der Brief aus Zürich gekommen war.
Leo
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