Tod Auf Dem Jakobsweg
einer Kloake. Wieder hörte sie ein rhythmisches Geräusch, ohne erkennen zu können, ob es von vorne oder hinten kam. Aus beiden Richtungen? Ein Königreich für eine Taschenlampe. Die lag gut verwahrt in ihrem Rucksack im Hotel. Leo hielt sich für halbwegs mutig, aber sie wusste auch, wann es besser war, die Beine in die Hand zu nehmen. Nämlich jetzt. Leider war das unmöglich, Ruth Siemsens tapsige Schritte verrieten, dass an schnelleres Vorankommen nicht zu denken war. Es war auch längst zu spät. Das Geräusch, das so verdächtig nach Schritten klang, war sehr nah. Es kam nun eindeutig von vorne, von dort, wo sich ein Schatten rasch auf sie zubewegte.
Die Töne schnitten wie scharfe Messer in den Körper und die Seele. Auch wenn sie wie oft leisebegannen, sich aus der Ferne langsam, doch unaufhaltsam näherten, klangen sie schon schrill, tanzten auf und ab in einer furiosen Melodie. Es war keine Melodie, es war ein Schreien. Je näher es kam, umso unerträglicher wurde es, bohrte sich in die Ohren, in den Kopf, füllte den ganzen inneren und äußeren Raum. Und dann tauchte der Mund auf, zahnlos und verzerrt. Endlich die Augen. Das war das Schlimmste. Die leeren Augen über dem schreienden Mund. Das Schreien übertönte das Hämmern, dieses unerklärliche Hämmern. Fäuste auf Holz? Es schrie und schrie und schrie — und plötzlich war es still. Grauenvoll und erlösend zugleich.
Stille.
Nur die Augen waren noch da. Und der Mund. Und das Hämmern. Das Hämmern hörte nichtauf. Bis der Traum endete, einer Explosion gleich den Schlaf zerriss, der in diesen Nächten die Qual zurückbrachte. Die Qual. Das Entsetzen. Den ohnmächtigen Zorn.
Der grelle Schein einer Taschenlampe blendete Leo, bevor sie sich umwenden konnte. Es wäre auch nutzlos gewesen, mit Ruth Siemsen war Flucht unmöglich.
«Kann es sein, dass Sie sich verirrt haben?», fragte eine Männerstimme.
«Das sage ich Ihnen, wenn Sie die blöde Lampe senken», fauchte Leo. «Soll ich blind werden? Und dann lassen Sie uns vorbei, wir finden unseren Weg alleine.»
Der Lichtschein senkte sich, und sie sah in ein gespenstisch von unten beleuchtetes Gesicht. Ruth Siemsen drängte sich mit einem erschreckten Schluckauf nach vorne.
«Ach, Sie sind’s nur», sagte sie mit einem erleichterten Seufzer und ließ sich erschöpft gegen die Mauer fallen.
«Ja», sagte der Mann, «ich bin’s nur. Wir kennen uns auch», erklärte er, an Leo gewandt. «Ich habe Sie heute Nachmittag vom Computer vertrieben, erinnern Sie sich? Wir wohnen im selben Hotel.»
Leos Knie wurden vor Erleichterung weich. Nie wieder würde sie behaupten, Dunkelheit könne sie nicht schrecken.
«Ich glaube gern, dass Sie den Weg alleine finden.» In seiner Stimme schwang unüberhörbar Amüsement mit. «Wenn Sie erlauben, werde ich Sie trotzdem begleiten, wir haben den gleichen Weg. Sie gehen zwar eine passable Abkürzung, die sonst nur Einheimische kennen, aber in der falschen Richtung. Für einen ausgedehnten Nachtspaziergang ist es zu kalt, finden Sie nicht?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, schlüpfte er aus seiner Lederjacke, hängte sie der frierenden Ruth um die Schultern und übernahm die Führung. Auch im kurzärmeligen Polohemd störte ihn die Kälte offenbar wenig. Ruth Siemsen folgte ihm, diesmal ohne die Hand an einem Anorak Leo schloss sich erleichtert an.
Schon nach wenigen Minuten standen sie vor ihrem Hotel. Die Rezeption war um diese späte besser gesagt: frühe Stunde nicht mehr besetzt. Ihr Retter in der Nacht zog seinen Schlüssel heraus, öffnete die Tür und ließ ihnen höflich den Vortritt.
Ruth Siemsen bedankte sich, endlich ohne Schluckauf, bei dem Mann, dessen Namen sie nicht wussten, und reichte ihm seine Jacke. Er legte sie sich über den Arm, nicht schnell genug, dass Leo die dezente Tätowierung übersehen hätte, doch zu schnell, als dass sie erkennen konnte, was sie zeigte. Es hatte nach einem Kreuz ausgesehen. Nach einem Kreuz und...?
Es interessierte sie nicht. Nicht jetzt. In dem sicheren Hort angekommen, spürte sie plötzlich bleierne Müdigkeit. Sie wollte nur schlafen. Er begleitete Ruth fürsorglich bis zu ihrer Tür, Leos Zimmer lag vier Türen weiter auf derselben Etage. Nachdem sie sich verabschiedet und sogar daran gedacht hatte, Ruth viel Glück zu wünschen, drehte sie sich nicht mehr um, doch sie spürte den Blick des fremden Mannes noch im Rücken, als sie die Tür hinter sich ins Schloss zog und den Schlüssel zweimal
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