Tod Auf Dem Jakobsweg
umdrehte.
Kapitel 8
Freitag / 6. Tag
Am Morgen fand Leo vor ihrer Tür ein Kuvert mit dem Hotel-Logo und ihrem Namen, auf der Rückseite standen in akkurater, sehr aufrechter Schrift die Buchstaben R. S. Trotz der nächtlichen Turbulenzen war Ruth Siemsen sehr früh aufgestanden. Obwohl Leo wie meistens spät dran war, öffnete sie in der Fensternische bei der Treppe den Brief. Die wenigen Zeilen zeigten, dass Benedikts Mutter den Schutzwall ihrer Contenance wieder aufgerichtet hatte. Sie bat um Nachsicht für ihre unentschuldbare Unbeherrschtheit und den leichtfertigen Umgang mit dem ungewohnt starken Wein, bedankte sich für die Unterstützung und bat zu vergessen, was sie berichtet habe, insbesondere von Benedikts Beteiligung an dem Domingo-Prozess. Ihre Erinnerung hatte den Namen also doch wieder hergegeben.
Im hellen Licht des Morgens, schrieb sie weiter, sei klar zu erkennen, dass diese Überlegungen einzig der Sorge um ihren Sohn zuzuschreiben seien. Sie vertraue auf die zugesicherte Diskretion, wünsche eine angenehme Weiterreise und verbleibe mit besten Grüßen.
Seltsamerweise hatte sie trotz des kühlen Tons in der unteren linken Ecke ihre Handy-Nummer notiert. In kleiner Schrift, als habe sie Sorge, aufdringlich zu wirken. Nach kurzem Zögern klopfte Leo an ihre Tür, Ruth Siemsen öffnete nicht, und auch bei angestrengtem Lauschen war aus dem Zimmer kein Geräusch zu hören.
Punkt neun verließ die Gruppe das Hotel und machte sich auf den Weg zum Bus vor dem Arco de Santa María. Enno zeigte wieder die gewohnte Munterkeit, nur ein sehr misstrauischer Mensch konnte annehmen, sie wirke ein wenig künstlich und er halte Abstand zu Fritz und Rita. Am Bus angekommen, sah Leo sich nach Nina um, sie war nicht da. Die Reise ging ohne sie weiter.
Dieser Tag verlief endlich wie ein ganz normaler Wandertag. Ignacio fuhr die Gruppe bis Tardajos, einem bescheidenen Dorf zehn Kilometer westlich von Burgos inmitten einer kargen, dünnbesiedelten Meseta-Landschaft. Es war warm geworden; selbst als es zu regnen begann, blieb die Luft auch auf der Hochebene mild. Sie passierten Hornillos del Camino, ein Straßendorf der Region wie aus der Werbebroschüre, mit einem Kirchlein in seiner Mitte und hermetisch wirkenden Steinhäusern, die wohl schon die Tempelritter hatten vorbeiziehen gesehen, vor Türen und Fenstern blühten üppig Rosen und Geranien.
Weiter ging es vorbei an Pappelplantagen aus schnurgeraden Baumreihen und durch endlose Getreidefelder, die hier und da von aus der Ackerkrume geklaubten, mit Klatschmohn und wilder Kamille überwucherten Feldsteinhaufen gekrönt waren. Bunte Inseln in einem grünen Meer.
Meseta bedeutete , hier wellten sich harmlos aussehende, gleichwohl anstrengende Hügel. Richtig beschwerlich wurde der Weg auf den letzten Kilometern vor Hontanas, wo der sanfte, doch unermüdlich fallende Regen entlang eines Baches die lehmige Erde durchweicht hatte. Sie klumpte sich bei jedem Schritt unter den Wanderstiefeln zusammen und verwandelte sie in matschige Stelzen. Ein schillernder Doppelregenbogen, dessen Enden vor einem Himmel aus Azur und Schwarzblau aus den leuchtend grünen Feldern aufstiegen, entschädigte für die Beschwerlichkeit.
Wenn man beide Enden sehe, erklärte Eva Leo mit strahlendem Lächeln unter ihrer tropfenden Kapuze, sei das ein Glückszeichen, bei einem der noch selteneren doppelten Bögen müsse das doppeltes Glück bedeuten.
«Hoffentlich», knurrte Caro, während sie sich mit einem spitzen Stein mühte, die dicken Lehmklumpen von ihren Schuhen zu lösen. «Heute will ich gerne an die wundersamen Wirkungen banaler Luftspiegelungen glauben. Mir reicht zu meinem Glück schon, wenn die Wolken endlich den Hahn zudrehen und meine Füße Asphalt oder soliden Schotter unter den Sohlen spüren.»
Beides ging in Erfüllung. Als der camino sich am Rand der Meseta plötzlich steil zum Dorf hinunterwand, versiegte der himmlische Wasserfall, die Sonne gab ihr Bestes, die Erde dampfte, und der wieder feste Weg machte die Schritte leicht. Ein Milchkaffee in der kleinen Dorfkneipe nahe dem uralten Gebäude des ehemaligen Pilgerhospizes komplettierte das Glück. Noch glücklicher war Leo, als sie am Dorfausgang, wo der Weg die Landstraße querte, den Bus entdeckte. Sie waren seit gut sechs Stunden unterwegs — genug für einen Tag.
Die Hälfte der Gruppe teilte ihre Meinung. Nur Enno, Caro, Felix, Rita und Hedda nahmen mit Jakob den
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