Tod Auf Dem Jakobsweg
Debatte zwischen Detektiv und Autorin. Sie hatten sich von El Cids Schwert inspirieren lassen und waren lüsternen Blicks damit beschäftigt, es an einem riesigen schrundigen Schleifstein zu schärfen, wie Leo vorgestern einen im Hof eines Bauernhauses gesehen hatte. Im wahren, nämlich wachen Leben hatte sie von einer romantischen Reise in dem alten Luxuszug geträumt. Nun war von Romantik nichts zu spüren, sie fühlte blankes Entsetzen. Bis plötzlich ein neuer mörderischer Feind auftauchte: ein zweiköpfiges Fabelwesen, das markerschütternd heulend den Echsenschwanz gegen die Scheibe schlug.
Keuchend und schweißnass schoss Leo aus dem Bett. Das Wesen jaulte immer noch, doch weder hatte es zwei Köpfe noch einen Echsenschwanz. Es war nur ein Hund. Ein ganz reales irdisches Wesen auf vier Beinen, das mutterseelenallein auf dem weiten Platz um San Martín hockte und den Mond anjaulte. Womöglich war es doch kein irdisches Geschöpf. Das Tier war groß, schwarz und struppig, ein wahrer Höllenhund. Begleiter des allgegenwärtigen Seelenjägers Satan, der sich von jeher auf dem Jakobsweg herumtrieb und auf Beute lauerte?
Zum Glück glaubte Leo selbst mitten in der Nacht nicht an die Existenz von Höllenhunden und des Satans. Sie schloss das Fenster, das grelle Jaulen wurde zum Wimmern, und schlüpfte wieder unter die Decke.
Die Uhr zeigte Viertel nach vier, keine gute Zeit, wach zu sein. Sie war trotz der geträumten Schrecken müde genug, um gleich zurück in den Schlaf zu gleiten, doch erlaubte sie sich eine Schwäche und ließ das Nachttischlämpchen an. Der Schlaf dachte nicht daran, sie in sein Reich zu holen. Sie löschte tapfer das Licht — und wurde in der Dunkelheit immer wacher.
Plötzlich verstand sie und setzte sich in neuem Schrecken auf. Nicht die kalte Nacht hatte die Erinnerung an einen alten Roman und Film zu Traumbildern geformt. In «Mord im Orientexpress» hatte sich ein Dutzend sehr unterschiedlicher Menschen zusammengetan — einer für alle, alle für einen—, um sich gemeinschaftlich an einem widerwärtigen Entführer und Mörder zu rächen, der ihrer aller Leben verdüstert hatte und der weltlichen Gerechtigkeit entkommen war.
Wenn sie nun sich selbst und Benedikt als das Opfer abzog, die Rolle des unbeteiligten Direktors der Eisenbahngesellschaft Ignacio zuschrieb, blieben auch in dieser Reisegruppe auf dem camino zwölf Personen. Ein Dutzend.
Was für ein Vergleich! Ein aus der Dunkelheit und Nähe zu alten Mysterien geborener Albtraum. Ärgerlich zog Leo sich die Decke über den Kopf, sperrte die Welt mit allen wirren Gedanken aus und schlief endlich wieder ein. Der Hund jaulte immer noch die Dämonen unter dem Dach von San Martín an.
Samstag / 7. Tag
Schon wenige Kilometer hinter dem ersten Dorf nach Frómista brannte die Sonne vom Himmel, wie es sich für spanische Gefilde gehört, ein sanfter Wind schenkte wenig Milderung. Bis am Horizont vage und nur als schmaler Streifen die nächste Bergkette aufstieg, erstreckte sich die kastilische Meseta platt wie ein Pfannkuchen. Es gab kaum Häuser, nur endlose grüne Felder, rotbraune Erde, Pappelhaine, hoch aufragende, tiefgelb blühende Ginsterbüsche am Straßenrand. Die Farben prahlten mit leuchtender Intensität wie in einem Breitwandfilm in Technicolor. Ein Schild gab bekannt: 475 Kilometer bis Santiago.
Leos Gedanken waren noch bei der Villa mit dem von Säulen getragenen Vordach, die am Rand des letzten Dorfes dem Verfall preisgegeben war. Sie stand in einem von rostigen Gittern geschützten verwilderten Garten, zwei längst ihrer Glühbirnen beraubte, aus Schmiedeeisen zierlich geformte Laternen ragten letzten Wächtern gleich in den Himmel. Ein Schild bot das Anwesen zum Verkauf. Ein geheimnisvoll anmutendes altes Haus — auch das war einen Traum wert. Wer mochte darin gewohnt haben? Gelebt, gelitten? Oder gefeiert? Leo favorisierte glückliche Sommerfeste vor möglichen Familiendramen und der Einsamkeit des letzten Bewohners unter einem Dach, durch das schon Schnee und Regen eindrangen.
«Glaubst du?», hatte Helene gefragt, die mit ihr am Zaun gestanden und versucht hatte, durch die Gitterstäbe zu fotografieren. «Lustige Sommerfeste gibt es überall. Bei dieser vornehmen Hütte mit ihrem verblichenen Glanz stelle ich mir etwas anderes vor. Etwas Dramatischeres. Eine steinalte Witwe zum Beispiel, eine stolze Señora mit der Mantilla aus schwarzer Spitze auf silberweißem Haar. Sie lebt allein mit
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