Tod Auf Dem Jakobsweg
Meldung hätte kaum sein Interesse geweckt, wäre da nicht die Art des Unfalls gewesen, der Sturz den Abhang hinunter, und der Name des Toten. Dietrich. So hieß kein Spanier, so hießen nur Deutsche oder Männer aus dem deutschen Sprachraum.
Ein Anruf mit dieser Nachricht in der Chefetage, und die Akte Siemsen konnte wieder geöffnet werden.
Er irrte. Foncebadón gehöre nun wirklich nicht zum Bezirk Burgos, tönte es ungeduldig durch das Telefon, wo käme man hin, wollte man sich in Zuständigkeiten anderer einmischen und einem Ereignis nachgehen, das zweifellos verlässliche und erfahrene Kollegen vor Ort als Unfall erkannt hatten. Die Akte Siemsen sei ein für alle Mal abzulegen, der Tote von Foncebadón zu vergessen.
Seltsamerweise spürte Obanos Zorn auf Esteban Prisa. Warum hatte der Subinspektor den Wisch nicht einfach in den Papierkorb geworfen? Manchmal war es einfacher, etwas nicht zu wissen.
Obanos griff nach seinem Jackett, brüllte in Richtung Prisas Arbeitsplatz «Ich mache jetzt Mittag» und verließ schnurstracks das Kommissariat. Akte hin, Chefanweisung her, ein Abschiedsbesuch musste erlaubt sein.
Señora Siemsen saß am Bett ihres Sohnes — Inspektor Obanos hatte nichts anderes erwartet. Aber anders als bei seinem letzten Besuch sah sie nicht nur das Gesicht ihres Sohnes oder die Displays der Apparaturen, sie las in einem Taschenbuch, dessen Titel er bei aller Neugier nicht erkennen konnte. Jedenfalls war es keine Bibel, was Schwester Luzia zweifellos besser gefunden hätte. Die Nonne versorgte einen Patienten im Nebenzimmer, das durch die zur Hälfte verglaste Wand abgetrennt war. Sie erkannte ihn durch die Scheibe und nickte ihm knapp zu. Wie er inzwischen von Pilar erfahren hatte, konnte er das als Sympathiebekundung werten.
Als er seiner Frau von seinem ersten Besuch erzählt hatte, hatte er sich gewundert, dass Pilar die strenge Nonne kannte. In dem großen Hospital konnten sich nicht alle kennen, zudem war das Revier seiner Frau die Laborabteilung, in der die Pflegerinnen der Intensivstation nichts zu tun hatten. Aber Pilar hatte glucksend versichert, es gebe niemanden im Hospital General Yague, der Luzia nicht kenne. Sie sei blitzgescheit, ein echtes Unikat und werde garantiert zur Legende. Allerdings stünden ihre Chancen, heiliggesprochen zu werden, schlecht, dazu fehle es ihr an der nötigen Demut.
Ruth Siemsen sah auf, sie lächelte, doch ihr Blick war unruhig fragend. Leider fiel Obanos erst jetzt ein, dass sein Abschiedsbesuch zugleich bedeutete, einer auf Klärung hoffenden Mutter sagen zu müssen, die Ermittlung sei eingestellt, die Akte geschlossen. Sie sah auch heute müde aus, aber ihre Kleidung war gepflegt und die Verzweiflung aus ihrem Gesicht verschwunden, er erkannte darin eine tiefe Sorge, mehr nicht. Aber das war ja auch genug.
«Der Schlauch ist weg», sagte sie leise, «sehen Sie?» Sie betrachtete ihren Sohn, als habe er eine besondere Leistung vollbracht, was womöglich zutraf. «Er atmet selbst, und Dr. Helada versichert, er atmet gut.»
Obanos nickte. Er hatte nicht mehr an den Beatmungsschlauch in Benedikt Siemsens Luftröhre gedacht. Es war kein Anblick, den man gern in der Erinnerung bewahrte.
«Von mir gibt es keine Neuigkeiten», erklärte er behutsam. «Ich fürchte, es wird auch in Zukunft keine geben.»
Er betrachtete sie aufmerksam, gefasst auf eine heftige Reaktion. Sie blieb ruhig, nur ihre Hand glitt über die von Benedikt.
«Ich habe schon damit gerechnet», sagte sie endlich. «Ich lerne hier Geduld, Inspektor. Mein Sohn wird bald aufwachen, Dr. Helada ist dessen sicher, dann wird sich alles klären.»
Wieder nickte Obanos. Tatsächlich war er da überhaupt nicht sicher. Das menschliche Gehirn gab längst nicht alles preis, was es gespeichert hatte. Immerhin sah der junge Mann in seinen weißen Laken schon viel weniger grau und eingefallen aus. Was immer sie ihm durch die Schläuche einflößten, es bekam ihm gut.
Obanos zögerte, dann fand er, wie stets könne eine Frage auch hier nicht schaden.
«Es hat bestimmt nichts zu sagen, Señora, aber kennen Sie jemanden, der Dietrich heißt? Dietrich W.?» Ruth Siemsen dachte stirnrunzelnd nach, den Blick auf das Gesicht ihres Sohnes geheftet. «Nein, ich kenne überhaupt keinen Dietrich, der Name ist nicht mehr häufig. Ich kenne einen Dieter, einer meiner Kollegen heißt so, ich bin recht sicher, dass es keine Verkürzung von Dietrich ist. Außerdem heißt er mit Nachnamen Dittmann. Warum
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