Tod Auf Dem Jakobsweg
sinnvolle Vorbereitung, ohne einen Versuch herauszufinden, ob es der richtige Weg zum richtigen Ort sein würde. Das war verrückt. Sie hatte den umständlichsten Weg gewählt, allmählich begriff sie, warum. Sie hatte Angst, am Ziel erkennen zu müssen, dass sie einer Illusion gefolgt war, nur einer Hoffnung. Oder einer fixen Idee. Inzwischen war sie dessen fast sicher.
Vielleicht war das der unerwartete Sinn des langen Weges: Er sollte Zeit und Kraft geben, sich darauf einzustellen, falls ihr Plan scheitern sollte.
Sie hatte nicht geahnt, nicht einmal in ihren dunkelsten Gedanken befürchtet, dies könne einen so hohen Preis haben. Sie hatte sich wie gelähmt gefühlt. Alles, was sie seit dem Moment bei dem Pass getan hatte, alles, was so vernünftig aussah, so praktisch und zielgerichtet, hatte ein Teil in ihr entschieden, eine fremde Frau, agierend wie ein Automat.
Das war nun vorbei. Sie konnte und musste sich wieder auf den Weg machen, egal, was sie erwartete. Morgen wollte sie sich von Benedikt verabschieden, und diesmal würde sie seiner Mutter nicht ausweichen. Es war an der Zeit, die Scheu vor dieser Begegnung zu überwinden.
Plötzlich fühlte sie sich wie befreit. Die Automatenfrau gab es nicht mehr, ab jetzt handelte sie wieder selbst und brachte zu Ende, was sie begonnen hatte. Jetzt musste sie herausfinden, wann ein Bus fuhr, der sie in die Nähe der Wandergruppe brachte. Bis zum Busbahnhof in der Calle Madrid war es nur ein Katzensprung. Aber zuerst eine Dusche, zuerst den Rest der Benommenheit fortspülen.
Sie nahm Toilettentasche und Handtücher von der Stuhllehne, öffnete die Tür zur Diele und blieb, den Atem anhaltend, stehen. Da war ein Geräusch, es klang, als komme es aus dem Nebenzimmer. Es war noch zu früh für die Heimkehr des fleißigen Belgiers, und die Señora war mit ihrem gelben Hündchen und der großen Markttasche über dem Arm ausgegangen. Sie lauschte noch einmal, dann öffnete sie achselzuckend die Tür zum Badezimmer. Sie war ein überempfindlicher Hasenfuß. Da ging nur jemand in der Wohnung im oberen Stockwerk herum. Oder im Treppenhaus. So einfach wollte sie sich nicht mehr erschrecken lassen.
Der Blick aus dem Hotelfenster in Frómista fiel direkt auf die Kirche San Martín, die zu den vier großen, in ihrem ursprünglichen romanischen Stil rein erhaltenen Gotteshäusern am Jakobsweg zählte. Vor dem Abendessen hatte Leo rasch einen Blick hineingeworfen, ein junger Mann hatte schon die Kerzen gelöscht und bereitgestanden, das Portal abzuschließen. Wie oft bei von außen gedrungen wirkenden Gebäuden überraschte sie die Weite und Höhe des kargen dreischiffigen Raumes unter den schlichten Rundbögen. Mit dem Geruch von Weihrauch und altem feuchtem Sandstein drängte sich auch ohne viel Phantasie eine Zeitreise zurück in das 11. Jahrhundert auf, die Vorstellung von asketischen, in Gebet und Meditation versunkenen Mönchen, von Tempelrittern, die mit wehenden weißen Mänteln über Kettenhemden durch den Mittelgang schritten.
Für die eigentliche Attraktion sollte am nächsten Morgen Zeit sein, die von Steinmetzen geschaffenen Bibelszenen und für christliche Symbole stehende Tiere wie Löwe, Adler oder Pelikan an den Kapitellen der Säulen, für die mehr als dreihundert Darstellungen von Fabelwesen, pflanzen und Tieren an den äußeren Enden der Sparren unter dem vorragenden Dach. Dazwischen sollte sich auch eine seltene Symbolik am camino verstecken, ein Mann mit ausgeprägtem Phallus. Genau waren die steinernen Bildnisse nur mit dem Fernglas zu erkennen. Sie umzogen die Kirche wie eine magische Linie und erinnerten mehr an vorchristliche Magie zur Abwehr des Bösen als an fromme Kunstwerke zu Ehr und Preis Gottes.
In dieser Nacht träumte Leo trotzdem weder von Templern noch von Fabelwesen oder dämonischen Fratzen. In dieser Nacht reiste sie mit dem Orientexpress, Agatha Christie war mit von der Partie. Die englische Lady mit den kriminellen Leidenschaften dirigierte das Personal ihres berühmtesten Romans mit großem Vergnügen und stritt mit Hercule Poirot um die Größe der Mordwaffe. Mrs. Christie war für ein Fleischmesser, ihr belgischer Meisterdetektiv hielt das für vulgär und eine Beleidigung seiner kleinen grauen Zellen. Er forderte ein Stilett mit einem Griff aus Ebenholz und Elfenbein.
Die Traum-Leo fand das gar nicht amüsant, denn die Rolle des bösen Opfers war ihr zugedacht. Lauren Bacall, Ingrid Bergman und Sean Connery ignorierten die
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