Tod Auf Dem Jakobsweg
verlaufenden, tiefliegenden schlammigen Bach balancieren. Einzeln stehende Bäume zeichneten sich als schwarze Silhouetten gegen die Sonne und aufziehende Wolken ab. Manchmal, wenn das Gestrüpp am Weg besonders hoch und dicht stand und ihr den Blick auf das verwehrte, was vor ihr lag, glaubte sie ihr Herz schlagen zu hören.
Wenn Leo die Karte richtig erinnerte, konnte es nicht mehr weit sein, bis der Pfad bei einer alten Steinbrücke über den Fluss, nahe einer noch älteren Eremitage, wieder auf eine Straße traf. Sie war allein auf der Welt, aber sie hatte keine Angst, natürlich nicht, dazu gab es keinen Anlass. Nur eine Viertelstunde entfernt hinter den Feldern rollten Autos über die Straße, eine halbe Stunde entfernt wartete eine kleine Stadt mit Kaffee und einem Mittagessen in der Bar an der Plaza gegenüber der Kirche. Nein, sie hatte keine Angst. Sie hielt nur bei jeder Biegung den Atem an, ob sie wollte oder nicht. Und erstarrte, als sich vor ihr ein Schatten durch das wuchernde gelbe Gestrüpp bewegte, näher kam, ohne das geringste Geräusch.
Sie stand unbeweglich, jede Faser ihres Körpers gespannt. Ein Arm schob sich durch die Zweige mit den giftig gelben Blüten, bog sie zur Seite — vor ihr stand Hedda. Mit dunklen Augen, doch nicht im mindesten überrascht.
«Verdammt, Hedda», keuchte Leo und versuchte zu lachen, «warum schleichst du dich so an? Du hast mich zu Tode erschreckt.»
Joaquín Obanos war schlechter Stimmung. Er vergaß gerne, dass es Vorgesetzte gab, die ihren Untergebenen sagten, was sie zu tun hatten. Nicht jeden Tag, nicht bei jeder Kleinigkeit, aber bei jedem Fall. Noch lieber vergaß der Inspektor, dass auch er einen solchen Chef hatte. Gewöhnlich verlief ihre Zusammenarbeit reibungslos, sie gingen nicht nach Feierabend zusammen in eine Bar, aber der Ton zwischen ihnen war kollegial, ab und zu beinahe freundschaftlich. Sie respektierten einander, jeder kannte und schätzte die Stärken des anderen. Was konnte man mehr verlangen?
Heute jedoch war ohne vorherige Diskussion eine besonders strikte Anweisung aus der Chefetage gekommen, die ihm nicht gefiel. Danach hatte Obanos den Fall Benedikt Siemsen abzuschließen. Nach Zeugenberichten und Aktenlage sei der Absturz ein vom Opfer selbstverschuldeter Unfall gewesen und als solcher zu behandeln.
Er starrte missmutig auf die dünne Mappe. Diese Entscheidung war richtig, das wusste er, es gab nichts, das ein Fortsetzen der Ermittlung rechtfertigte — und doch. Und doch?
Er hatte genug anderes zu tun. Auch Prisa maulte schon, obwohl es ihm als seinem Subinspektor nicht zustand. Esteban kümmerte sich seit jeher wenig darum, was ihm zustand. Das war schlecht für seine Karriere und für Obanos oft lästig, gleichwohl schätzte er die Widerborstigkeit seines Kollegen. Zudem amüsierte sie ihn oft, nicht zuletzt, weil es in seiner Macht stand, ihm zu zeigen, dass er der Chef war, und zu entscheiden, was er wollte.
Ja, die Entscheidung war richtig. Wenn es nach gradliniger Polizeiarbeit ging. Er hatte selbst daran gedacht, bis, ja, bis Esteban ihm vor einer Stunde einen schon etliche Tage alten Zeitungsausriss auf den Tisch gelegt hatte.
«Keine Ahnung, warum ich das tue», hatte er geraunzt. «Ich finde, du rennst einer Chimäre nach. James Bond würde so was nie tun. Das solltest du dir mal durch den Kopf gehen lassen.» Damit war er aus dem Zimmer gefegt.
Es war nur eine kurze Meldung in einer Regionalzeitung von Astorga. Bei Foncebadón, stand darin zu lesen, sei es zu einem bedauerlichen Unfall in der Nähe des Jakobsweges gekommen. Obanos war sofort elektrisiert gewesen.
Dietrich W., Mitbetreiber eines abseits gelegenen Pilgerhostals, war bei einem nächtlichen Spaziergang, wie er ihn oft und bis dahin ohne jeglichen Schaden unternommen hatte, einen Abhang hinuntergestürzt. Noch bevor er gefunden wurde, war er seiner Kopfverletzung erlegen. Obwohl er nicht verheiratet war, hinterließ er einen minderjährigen Sohn und dessen Mutter, beide lebten zurzeit in Santiago de Compostela. Das Unglück hatte sich nicht auf dem offiziellen camino ereignet. Für Pilger und andere Wanderer, betonte der Autor der Zeilen abschließend, bestehe keinerlei Gefahr. Die Unfallstelle liege abseits der Route, der camino sei auch in dieser bergigen Region ein Musterbeispiel an Sicherheit, das seinesgleichen weltweit suche.
Der reinste Werbetext, dachte Obanos, absolute Sicherheit mit einer Prise Thrill. Das berührte ihn nicht, die ganze
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