Tod Auf Dem Jakobsweg
Autor durch dieses weite fremde Land mit seiner wilden Geschichte treiben zu lassen, hier abzubiegen, dort ein Weilchen zu bleiben, noch einen unbekannten Weg einzuschlagen, eine geheimnisvoll im Dunst aufragende Festung zu suchen.
«Aussteigen, Leo!», hörte sie plötzlich Jakobs Stimme. «Du schläfst besser wie wir im Bett.»
Sie hatte nicht bemerkt, wie alle ausstiegen, und sah sich verblüfft um. Der Bus stand auf dem Parkplatz vor San Martín in Frómista gegenüber dem Hotel für diese Nacht. Die berühmte, fast ein Jahrtausend alte romanische Kirche war die letzte Überlebende einer großen Klosteranlage, sie wirkte restauriert, geputzt und, obwohl sie unverkennbar eine sehr lange vergangene Zeit repräsentierte, als sei sie gerade erst erbaut. Wie hatte sie eben gedacht? Das fremde Land, die wilde Geschichte? Das saubere kleine Frómista ließ bei allem Staub, den der Abendwind über den Platz wirbelte, auf den ersten Blick wenig davon erahnen.
Nina legte den Hörer auf das altmodische Telefon und sank gegen das Kopfende des wuchtigen Bettes. Das Bett aus dunklem Holz war von einem schweren weißen Leinenüberwurf bedeckt und nahm die Hälfte des Zimmers ein. Für einen Schrank war kein Platz, nur für eine schmale Kommode, darauf ein halbblinder Spiegel und eine Vase mit staubigen roten Plastikblumen, daneben ein noch schmalerer Stuhl, an der Wand hing das goldgerahmte Bild einer Madonna im blauen Gewand, auf der Brust ein von zwei Pfeilen durchbohrtes und einer Gloriole gefasstes Herz.
Sie hatte immer in großen Räumen gelebt, gewöhnlich fühlte sie sich in Kammern wie dieser unbehaglich. Nun war es anders. Hier hatte sie alles im Blick, keine Ecke, kein hinter einer Tür diesen Blicken entzogenes Badezimmer, ein schlichtes Rollo und eine dünne himbeerfarbene Gardine anstelle bodenlanger, üppiger Stores. In diesem Zimmer, in der ganzen Pension der Señora Peralta fühlte sie sich sicher und unbeobachtet. Bei ihrer Suche nach einer neuen Bleibe hatte sie die Hotels gemieden und sich für ein Privatzimmer entschieden. Pension war ein zu großes Wort, die Señora vermietete nur zwei Räume ihrer Wohnung, dieser sah aus, als sei er außerhalb der Saison ihr eigenes Schlafzimmer. Weder gab es in dieser Wohnung lange, unübersichtliche Flure, noch verfügte das Haus über einen Hintereingang oder eine Feuerleiter. Wer eintreten wollte, musste an der Tür mit den beiden Schlössern klingeln, auch die Untermieter, und wurde umgehend vom jaulenden Gekläff des so kurzbeinigen wie fetten gelben Hündchens der Señora gemeldet.
Im zweiten Zimmer wohnte ein junger Belgier, Nina war ihm bisher nicht begegnet. Sie hatte ihn nur früh am Morgen das Haus verlassen und spät zurückkehren gehört, und wenn er durch sein Zimmer ging, knarrten die Dielen. Die Señora hatte mit sichtlichem Stolz erzählt, er studiere an der Universität Burgos Medizin und sei ein ungemein fleißiger und frommer junger Herr, er studiere bis in den Abend und besuche jeden Tag die Messe. Nina mochte die Señora, sie hoffte, sie werde nie herausfinden, dass er seine Zeit womöglich ganz anders verbrachte und nur zu viele Stunden allein in dem engen Quartier mied.
Nina hatte Glück gehabt, als sie dieses Versteck fand. Sollte der Mann, von dem sie sich beim Castillo und auf der Plaza del Cid beobachtet gefühlt hatte, sie tatsächlich verfolgt haben, hatte er ihre Spur verloren. Sie hatte niemand mehr bemerkt und war inzwischen sicher, sich alles nur eingebildet zu haben.
Das Kind hat eine so furchtbar lebhafte Phantasie, das hatte sie früher oft gehört. Hören müssen, es hatte ihr nicht gefallen, denn der Satz, dieser typische Erwachsene-wissen-alles-besser-Satz, war von einem ungeduldigen oder mokanten Unterton begleitet gewesen.
Sie bemerkte, dass sie immer noch auf den schwarzen Apparat starrte, der zweifellos aus Señora Peraltas ersten Ehejahren stammte, und schloss die Augen. Es war leichter gewesen, Gerdas Telefonnummer zu bekommen, als sie gedacht hatte. Ein Anruf bei der Auskunft hatte gereicht, die alte Hauswirtschafterin wohnte noch am gleichen Ort, seit sie das Haus der Insteins verlassen hatte. Warum hatte sie Gerda nicht längst angerufen und gefragt? Warum war ihr nicht gleich eingefallen, dass sie etwas wissen konnte? Gerda hatte ihn immer besonders gemocht, trotz allem.
Als sie sich überstürzt zu dieser Reise entschloss, hatte sie sich verhalten wie ein Kind. Nur mit einer Idee, ohne festen Plan, ohne
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