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Tod Auf Dem Jakobsweg

Tod Auf Dem Jakobsweg

Titel: Tod Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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gesagt, er hat bisher überhaupt nicht viel gesagt. Das Reden fällt ihm noch schwer wegen der Medikamente und wohl auch wegen des Beatmungsschlauchs, der hat seinen Hals wund gemacht. Nein, Inspektor, er erinnert sich nicht. Er weiß nur noch, wie er auf dem Weg über der Schlucht stand und dass es kalt und nebelig war. Und dann — nichts.» Sie wandte sich wieder ihrem Sohn zu und strich ihm zärtlich über die Stirn. «Er braucht Ruhe. Ich werde nicht erlauben, dass Sie oder irgendjemand sonst ihn jetzt mit Fragen bedrängen. Soviel ich weiß, haben Sie selbst Kinder, Sie werden das also gut verstehen. Egal, was für ein Unfall das war, es muss bis morgen, übermorgen oder so lange Zeit haben, bis mein Sohn stark genug ist, um sich dieser Frage und der Erinnerung zu stellen.»
    Benedikt Siemsen bewegte sich, er verzog schmerzhaft das Gesicht, hob, als wolle er etwas abwehren, eine Hand und öffnete die Augen. Er sah die Menschen an seinem Bett, mit einem matten Lächeln des Erkennens entspannten sich Gesicht und Körper, und er kehrte beruhigt in seinen Schlaf zurück.
    Obanos fühlte, dass er überflüssig war. Er murmelte einen Gruß, verließ den Raum und suchte nach Dr. Helada. Er fand ihn im Arztzimmer an einem überfüllten Schreibtisch, dessen Anblick Obanos das flüchtige Gefühl gab, er selbst sei ein beneidenswerter Mensch. Er werde für ein paar Tage verreist sein, erklärte er, aber immer über seine Handynummer erreichbar, Tag und Nacht. Wenn der Patient Klärendes zu dem Sturz berichte, erscheine es noch so nebensächlich, bitte er um sofortige Nachricht. Er verspreche, nein, er schwöre, nie wieder einen Anruf als zu gering einzuschätzen.
    Erst als er aus dem hospital ins helle Sonnenlicht hinaustrat, fiel ihm auf, dass Señora Siemsen nicht im mindesten erstaunt gewesen war, ihn am Bett ihres Sohnes zu sehen. Dabei wusste sie, dass der Sturz als Unfall zu den Akten gelegt worden war.
     
    Leo bemühte sich, was sie hinter dem Fenster des Hotels in Ponferrada sah, nicht mit einer Filmkulisse zu verwechseln. Als Flachländerin empfand sie es immer wieder als verwirrend, mitten in einer Stadt zu sein und doch rundum Berge aufragen zu sehen, Reihen grüner, von der Zivilisation vermeintlich unberührter waldiger Hänge dahinter die Kette der hohen Gipfel. Sie schloss seufzend ihr Notizbuch und steckte den Kugelschreiber in sein Etui. Es war zwecklos. Auf allen Reisen nahm sie sich vor, ein wenigstens stichwortartiges Tagebuch zu führen, zu notieren, was sie gesehen, was sie als besonders gefunden hatte, schön oder schrecklich. Schließlich war sie Journalistin, das Schreiben solcher Notizen sollte ihr zur zweiten Natur geworden sein. Man wusste nie, wozu man solche Erinnerungsstützen später verwenden konnte. Doch kaum war sie mehr als fünfzig Kilometer von ihrem Arbeitszimmer entfernt, empfand sie die tägliche Kritzelei als lästige Pflicht. Dies war ihr Urlaub, lästige Pflichten hatte sie zu Hause gelassen.
    Als Eva und Caro bei ihr geklopft und gefragt hatten, ob sie Lust habe, mit ihnen in die Altstadt zu gehen — bis zum Abendessen blieben ja noch zwei Stunden, und alle anderen seien schon unterwegs—, hatte sie vorgeschützt, müde zu sein. Auch seien endlich Postkarten zu schreiben, vielleicht komme sie nach, die Altstadt sei klein, im Zweifelsfall begegne man einander bei der Burg. Als die Schritte der beiden im Flur verklungen waren, hatte sie an der Tür des Nachbarzimmers geklopft’ Ninas Zimmer, doch sie antwortete nicht. Leo drückte die Klinke herunter, die Tür war verschlossen.
    Der lange Weg nach Molinaseca hatte keine Gelegenheit geboten, mit ihr allein zu sprechen, irgendjemand war immer in ihrer Nähe gewesen. Helene und Sven hatten ausführlich Vor- und Nachteile des Lebens in einem einsamen Berghostal diskutiert und Beteiligung erwartet, Edith erzählte von den Konflikten in ihrem Verein der Gartenfreunde in Augsburg, in dem zu ihrem Ärger die Gemüsefraktion die Blumenfraktion dominierte. Auch Jakob hatte sie ein ganzes Stück begleitet, dankenswerterweise überwiegend schweigend.
    Es war ein langer Tag gewesen, wieder im städtischen Getriebe und einem gutbürgerlichen Hotel, kamen ihr die Bilder aus dem hostal und dem Weg durch die einsamen Höhen unwirklich vor. Seltsam, dass seither erst wenige Stunden vergangen waren. Und gerade erst ein Tag, seit sie von Ninas Bruder und dessen tödlichem Unfall erfahren hatte. Mira hatte in den Tiefen ihrer Schubladen einen

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