Tod Auf Dem Jakobsweg
hier am besten aus -, höre ich gerne zu. Fangen wir doch mit dem Einfachsten an. Du hast gesagt deine Mutter habe wahrscheinlich gewusst, dein Halbbruder lebte. Warum hat sie es für sie behalten, und vor allem: Warum hast du sie nicht einfach gefragt, wenn du unsicher warst, ob deine Spur die richtige war?»
Nina leerte ihr Glas, füllte es nach und setzte sich in einen der beiden Sessel am Fenster.
«Setz dich auch», sagte sie, «ich kann nicht reden, wenn du auf mich heruntersiehst. Das erinnert mich zu sehr an meinen Vater. An seine unangenehmen Seiten. Es gab auch andere, die habe ich nur zu spät erkannt. Ich habe gesagt», fuhr sie fort, als Leo ihr gegenüber Platz genommen hatte, «ich nehme an , dass sie es gewusst hat. Als ich anfing, darüber nachzudenken, gab es einen Hinweis darauf, er muss nicht stimmen. Warum ich sie nicht gefragt habe? Das konnte ich nicht Sie ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall gestorben. Ein ganz normaler schrecklicher Autounfall, wie er alle Tage geschieht», sagte sie bitter. «In der letzten Zeit habe ich gegrübelt, ob es wirklich so normal war, aber das ist eine andere ^schichte, die nicht hierhergehört.»
Sie nahm ihr Glas, drehte es ohne zu trinken in den Händen und stellte es zurück.
«Es gibt auf dem Dachboden unseres Hauses einige Kartons und Kisten mit Sachen von ihr, ich habe sie erst vor einigen Wochen entdeckt, als — ja, als ich aus Bilbao zurückkam. Ich glaube, du weißt, dass ich dort im Guggenheim-Museum im letzten Winter hospitiert habe. Es war kaum wirklich Persönliches darunter, aber eine Mappe muss meinem Vater, oder wen immer er beauftragt hat, diese Sachen einzupacken und dort oben zu verstauen, entgangen sein. Darin waren auch einige Briefe, ein Kinderbild von mir, zwei Briefe eines Mannes, von dem ich nie gehört habe. Alte, na ja, sehr private Briefe, die mein Vater hoffentlich nie gesehen hat. Und einer von Dietrich, auf billigem liniertem Papier, wie aus einem Schulheft, ohne Datum, auch ziemlich alt. Er schrieb, er habe in Spanien endlich eine Heimat gefunden, Menschen, die einfach lebten und ihm helfen würden, auch wieder ein Mensch zu werden. Er werde nie zurückkehren. Er hoffte, das schrieb er jedenfalls, sie finde auch die Kraft und Hilfe, sich aus ihrem goldenen Käfig zu befreien.» Ein plötzliches Lächeln machte Ninas starres Gesicht weich. «Ich glaube, er hat sie geliebt. Er hörte sich so an, und meine Mutter war ihm im Alter näher als meinem Vater. Tristan und Isolde in Aumühle, rührend und komisch, nicht?»
Sie blickte aus dem Fenster, in der Dunkelheit leuchtete die Stadt wie ein verspäteter Adventskalender. Leo beherrschte ihre Ungeduld, sie wartete, bis Nina aus ihren Erinnerungen in das anonyme Hotelzimmer zurückkehrte und weitersprach.
«In diesem Brief fand ich die Hinweise. Er schrieb, er lebe nun bei einer Gruppe von Leuten, Deutsche, Spanier und ein Franzose, in der Nähe von Foncebadón. Das Haus sei nur ein kleines verlassenes Gehöft, überaus marode, aber es gebe gutes Wasser, sie hätten vor, es zu renovieren, auszubauen und eine Herberge daraus zu machen. Das war alles. Ich hatte nie von diesem Ort gehört, also habe ich eine Freundin in Bilbao angerufen, sie wusste sofort, wo das ist. Die Stationen des Jakobswegs kennt hier jedes Kind.»
«Und du hast nicht mit deinem Vater darüber gesprochen?»
«Auch König Marke ist tot.» Ihre Stimme klang hart nur ihre Augen verrieten den Schmerz.
«König Marke?»
«Verzeih, der war der für Isolde vorgesehene Ehemann. In der Sage wird Tristan ausgeschickt, die stolze Isolde für seinen König aus ihrer Heimat zu holen. Marke hat das Nachsehen, als die beiden sich verlieben. Leider nicht unsterblich, zum Schluss sind die Liebenden tot.»
«Richard Wagner», sagte Leo nickend, «große Oper. Da gibt es selten ein glückliches Ende. Ist dein Vater bei demselben Unfall gestorben wie deine Mutter?»
«Nein, erst vor einem halben Jahr und an einem Herzinfarkt, wie es sich für einen harten, wichtigen Mann gehört, der zu viel arbeitet.»
Leo hatte gedacht, als Kind eines plötzlich verschollenen Vaters habe sie viel gelitten. Gegen Ninas Geschichte war es nichts. Alles in allem war ihr eigenes Leben glücklich verlaufen, trotz des Verlustes und einiger harter Jahre hatte sie sich immer geliebt und geborgen fühlen können, nur darauf kam es an.
«Das tut mir leid, Nina. Nach alledem muss dich Benedikts Sturz doppelt in Panik versetzt haben. Was ist mit
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