Tod auf der Donau
Neuübersetzung von Dantes
Göttlicher Komödie
veröffentlicht hatte. Hätte Martin ihn nicht getroffen, wäre er wohl ein zweitklassiger Student geblieben. Rovan hatte ein völlig anderes Format als die anderen an seiner Fakultät, er kam stets eine Viertelstunde früher in die Vorlesung und sprach aus dem Stegreif, ohne Manuskript.
Nur Rovan verdankte der Lehrstuhl sein Ansehen, denn die niedrigen Gehälter und miserablen Aussichten hatten den Lehrkörper ziemlich dezimiert. Die Seminare fanden zuweilen in seiner Wohnung statt, deren Einrichtung vorwiegend aus Büchern bestand. Im Wohnzimmer befanden sich über 5000 Bände. Der schon recht alte,allerdings geistig immer noch frische Rovan konnte alle 14.233 Verse aus Dantes Hölle, Fegefeuer und Paradies auswendig. Oft zitierte er Dantes skeptische Äußerung zu den Möglichkeiten einer Übersetzung: »Was die Fesseln der Musen harmonieren ließ, kann nicht von einer in die andere Sprache übertragen werden, ohne alle Schönheit und Harmonie zu verlieren.«
Im Türrahmen stand unterdessen lächelnd seine wunderschöne Frau Eva, eine fast durchscheinende, mystische Figur mit lichtumflutetem Haar, eine großartige Übersetzerin aus dem Russischen. Die Treffen mit Rovan waren keine blutleeren Vorträge mit langweiligen Seminararbeiten, vielmehr wurde endlos und hitzig diskutiert. Der Meister betrachtete sein Werk überraschend sachlich, beurteilte seine Übersetzungen objektiv, als hätte sie jemand anderer angefertigt. Als er einmal in der neuen Ausgabe seines
Glöckner von Notre-Dame
von Victor Hugo blätterte, entfuhr ihm sogar ein: »Das ist schlecht, grottenschlecht. Mir ist damals leider nichts Besseres eingefallen. Mein Gott, könnte ich es doch nur wieder streichen!«
Rovan setzte sich jeden Tag um sechs an seinen Schreibtisch und übersetzte bis tief in der Nacht. Seit seiner Jugend hielt er den alten lateinischen Wahlspruch in Ehren:
festina lente
, eile mit Weile.
Als Rovans Generation in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu übersetzen begann, gab es noch nicht einmal Wörterbücher. Um eine gute Übersetzung anzufertigen, musste man schon außerordentlich begabt sein.
Martin wählte den Professor auch als Betreuer für seine Diplomarbeit aus, die er über die Novellen von Cesare Pavese und die Schwierigkeiten bei deren Übersetzung verfasste. Seine Studienkollegen suchten sich Berufsfelder aus, wo sie ihre akademische Bildung anzubringen oder zu entfalten gedachten. Martin war sich allerdings nicht so sicher, was er weiterhin machen wollte. Er schloss sein Studium mit Erfolg ab, seine Diplomarbeit wurde sogar mit dem »Preis des Rektors« ausgezeichnet. Professor Rovan gratulierte ihm und bot ihm tatsächlich das Du an. Martin bereitete diese Anerkennunggroße Freude, obwohl er sich – angesichts der Zustände im Hochschulwesen – keine Illusionen über die Fähigkeiten seiner Mitstreiter machte. Er jedenfalls konnte sich keinen besseren Beruf vorstellen als Literaturübersetzer zu werden.
Drei Wochen nach seinem Abschluss verunglückte Miroslav Rovan bei einem schweren Autounfall in der Nähe Bratislavas. Sein Tod traf Martin schwer. Er konnte es nicht fassen, dass eine so außerordentliche Laufbahn so absurd hatte enden müssen. Den Professor konnte niemand ersetzen, doch blieb immerhin sein Werk erhalten; deshalb suchte er auch einige Wochen lang Rovans Namen in allen Büchern und Lehrwerken, die es nur irgendwie gab, er blätterte sie durch und las einfach alles.
Noch kurz vor seinem Tod hatte ihm Rovan das Buch
Donau
gezeigt: Die Biographie eines Flusses des italienischen Schriftstellers Claudio Magris. Er hatte ihn aufgefordert, eine erste Übersetzung des Buches ins Slowakische zu wagen. Vielleicht lag es an der Trauer über den Tod des Professors, vielleicht war er auch nur von jugendlichem Leichtsinn getrieben, jedenfalls nahm er die Arbeit an dieser Übersetzung auf, nur einen Monat nach dem Staatsexamen. Rovan hatte mit drei Verlegern gesprochen, und einer zeigte tatsächlich Interesse. Drei Tage später rief er Martin an, die Rechte seien erworben und die Zustimmung des Autors eingeholt.
Er saß sieben Tage die Woche am Schreibtisch, mindestens zwölf Stunden lang; mit Ausnahme von ein paar Einkäufen verließ er die Wohnung praktisch gar nicht mehr. Er hatte weder Fernseher noch ein Radio, sie fehlten ihm auch nicht. Er bemächtigte sich des Textes, wurde eins mit der beharrlichen Abfolge von Tastaturanschlägen. An
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