Tod auf der Donau
Martin.
Er sah zu, dass er wegkam. Die Zeremonie hatte ihn tief erschüttert. Seine Unsicherheit wuchs. Er war sechsundzwanzig und hatte kein geregeltes Einkommen. Bratislava wurde immer teurer, und er musste seine Ausgaben weiter kürzen, um übersetzen zu können. Seine Generation wurde allmählich von einer neuen abgelöst – von Menschen, die nach 1989 auf die Welt gekommen waren und die nur zu gut wussten, was immer sie auch erreichen würden, es würde nicht genügen, denn der Ruhm dauerte für gewöhnlich zwei Minuten auf YouTube, und ein Ereignis war so langlebig wie eine Statusmeldung auf Facebook. Die Europäische Union, Schengen, den Euro hielten sie für selbstverständlich, Politik konnte ihnen gestohlen bleiben, und zum Lesen reichte ihnen ein Satz auf Twitter.
Auch die Buchhandlungen hatten sich verändert. Überall waren hohle Promibücher zu haben, von denen Martin noch nie ein Wort gehört hatte. Jede Fernsehmoderatorin hatte plötzlich die Ambition, einen Roman zu veröffentlichen. Die Buchverkäuferinnen hatten keinen blassen Schimmer, wer dieser Camus sein sollte. Von Beckett hatten sie nichts auf Lager, von Moravia ein einziges Buch, von Dürrenmatt nur die Krimis. Dafür lagen stapelweise Grisham, Coelho, Forsyth, Smith, Clancy, Rowling und Meyer herum. Und Dante? Sie hatten zwei Historienthriller, die dessen Leben nachstellten.
Selbst anerkannte Schriftsteller wandten sich lieber dem Schreiben von Kochbüchern zu und kehrten der Belletristik den Rücken. Einer der bekanntesten Literaturübersetzer nahm an einer Gesangsshow teil und schaffte es bis ins Halbfinale. Schauspieler aus dem Nationaltheater weinten wie kleine Kinder, wenn sie in einem Tanzwettbewerb abgewählt wurden. Musikpreise wurden Jahr für Jahr von alten sozialistischen Schlagersängerinnen abgeräumt ….
Auch die Qualität der Übersetzungen ging schlagartig zurück. Als Qualitätsmaßstab für die Arbeit der Übersetzer und Lektoren galtenvon nun an Geschwindigkeit und Quantität. Vielversprechende Kommerztitel wurden nicht selten schon ab dem ersten Tag ihrer Herausgabe in den USA von sechs Menschen gleichzeitig übersetzt, meist von schlecht bezahlten Studenten oder von Agenturen, die dafür Amateure anheuerten, zwei Kapitel pro Mann und Nase, und keiner vereinte alles zu einem sinnvollen Ganzen. Die handelnden Personen waren am Anfang manchen Buches per Du und am Ende plötzlich per Sie, und bei Namen wie »Pascal«, handelte es sich zunächst um eine Frau, die in späteren Kapiteln plötzlich ein Mann war.
In diesen Zeiten der Degeneration schien es Martin überlebenswichtig zu sein, das Übersetzen hochwertiger Literatur weiter auszuüben. Doch seine Kräfte ließen nach. Er biss die Zähne zusammen und arbeitete weiter.
Nach einem Dreivierteljahr hatte er den Malaparte fertig übersetzt. Das Buch erschien nach zähen Verhandlungen, und der Verleger, ein unglaublicher Betrüger, führte in dem Band kein einziges Mal Martins Namen an. Er weigerte sich zudem, Martin überhaupt etwas zu bezahlen. Dieser protestierte, doch er blockte jede Kommunikation ab, ignorierte ihn und verwies ihn an seinen Anwalt, um sich doch dort zu beschweren. Martin traf auf einen jungen Mann in seinem Alter (in einem Zweitausendeuro-Anzug und auf einem sündhaft teuren Stuhl sitzend), der ihn kühl empfing, seinen Vertrag durchblätterte und diesen zwei Minuten später zum wertlosen Wisch erklärte. Er wurde von einem Gefühl der eigenen Nichtigkeit überwältigt, er fühlte sich dermaßen erschöpft, dass er sich an die Wand lehnen musste, um nicht umzukippen.
Schließlich schlich er davon. Ein Exemplar vom Malaparte erstand er auf dem Nachhauseweg in einer Buchhandlung, zum vollen Preis. Die Verkäuferin sah ihn erstaunt an, denn er stürzte verschwitzt und atemlos in den Raum Er bemerkte, wie misstrauisch ihn die anderen Kunden musterten, doch er hielt mit dem Buch in seiner Hand durch, er brach nicht zusammen. Man bot ihm ein Glas Wasser an, er kippte es dankbar hinunter und ging wieder.
Er zog einen Prozess in Betracht, doch Kollegen rieten ihm ab, er solle sich den Weg zu weiteren Verdienstmöglichkeiten nicht für immer verbauen. Es würde einen Haufen Geld und viel Zeit kosten, und das Ergebnis wäre mehr als fraglich. Urheberrechte wurden schließlich in diesem Land von Radiosendern, dem Fernsehen, von Tageszeitungen und sogar den Universitäten ignoriert; etliche Professoren und Dozenten stahlen ganze Teile studentischer
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