Tod auf der Donau
Vormittagen kam er gut voran, doch die Angst, sein Pensum nicht zu schaffen, ließ den Nachmittag im Nu schmelzen. Er übersetzte stets bis tief in die Nacht, bis er kaum noch einen Satz erkennen konnte und seine Augen zufielen.
Die Monate vergingen, er lebte von bescheidenen Ersparnissen, vollkommen gegenwärtig und konzentriert. Er blickte starr auf denMonitor, und die Buchstaben, die zwischen den Buchdeckeln mumifiziert worden waren, erwachten vor seinen Augen wie Insekten nach einem langen Winter. Ein paarmal fuhr er mit dem Bus in die Universitätsbibliothek, um andere Arbeiten von Magris im Original nachzulesen, ansonsten verließ er Petržalka so gut wie nie. Er konnte es kaum abwarten, die erste Version endlich fertigzustellen. Seine Arbeitstage wurden immer länger, seine Müdigkeit stetig größer.
»Das Deckenfresko im Eingangsbereich der alten Apotheke ›Zum roten Krebs‹ zeigt den Gott der Zeit … Dieses Museum der Erlösung von allen Wunden, die die Zeit geschlagen hat, ist zugleich ein Museum der Geschichte: die Geschichte als ein irdischer Eingriff der Zeit, als Instrument der Entstehung und Zerstörung und zugleich Arznei, eine Erinnerung und Errettung all dessen, was gewesen war, vor der Abnutzung und dem Vergessen.«
In der Mitte des Buches kam er zu Magris’ Passage über Bratislava, und von da an wusste er, dass er dieses Buch abschließen würde, wenn er nur nicht nachließe.
»Die Slowakei befindet sich derzeit in einer Phase der politischen Unterdrückung, doch zugleich auch in einem historischen Aufschwung – des Findens und Entwickelns ihrer historischen Aufgabe. Im schönen Prag dominiert schon seit 1968 der Zauber der Einsamkeit und des Todes; Bratislava feiert, allen Widrigkeiten zum Trotz, die Welt lebt auf und erweitert sich, sie gibt sich nicht der Melancholie der Vergangenheit, sondern ihrem Fortschritt und der Zukunft hin.«
Bei Magris’ Zeilen aus der Mitte der achtziger Jahre, die genauso gut heute hätten verfasst worden sein können, überkam Martin die Angst, ob er Rovans Erwartungen gerecht werden könnte. Wie hätte wohl der Professor die Passage übersetzt? Er ließ keinen Beistrich, keine einzige Konjunktion unbeachtet. Er nutzte auch das legitime Recht eines Übersetzers, offensichtliche Fehler zu korrigieren. Magris etwa hatte die Straße »Gondova« in »Gondolova« und das Schloss »Oravský« in »Oravaský« umgetauft.
Am Rand des Ausdrucks häuften sich Notizen, Martin analysiertedaraufhin die einzelnen Kapitel aufs neue. Von einer vollkommenen Zufriedenheit war er weit entfernt, und er ahnte schon, dass er wohl nie richtig zufrieden sein würde. Die letzten sechs Arbeitswochen im Winter saß er in Decken gehüllt am Schreibtisch, es grenzte mittlerweile an Besessenheit. Nach elf Monaten setzte er eines Nachts den allerletzten Punkt, und die Übersetzung war beendet. Zwei Monate lang korrigierte er sie gemeinsam mit einer Redakteurin. Das fertige Manuskript umfasste 510 Seiten.
Das Buch erschien ein halbes Jahr später in einem großen und anerkannten Verlag. Mit seltsamen Gefühlen betrachtete Martin den Namen von Magris, darunter stand sein eigener. Er konnte sich mit dieser neuen Aufgabe anfreunden. Etwas von ihm, der normalerweise unerkannt durch die Straßen trollte, lag nun ausgebreitet und öffentlich auf dem Verkaufspult, sogar in den Auslagen.
Das Honorar war ein Almosen, doch er beschwerte sich nicht. Er freute sich, dass sein Debüt überhaupt verlegt worden war. Viele seiner ehemaligen Studienkollegen hatten von einer ähnlichen Chance geträumt, doch da diese nie kam, beschäftigten sie sich inzwischen längst mit etwas ganz anderem. Das Geld interessierte Martin kaum, er war vielmehr auf die Reaktionen von Fachkollegen und Lesern gespannt. Es kamen jedoch keine. Im ersten Halbjahr wurden 51 Exemplare verkauft, es erschienen zwei kurze Rezensionen – lächerliche Inhaltsangaben der Klappentexte. Er konnte es nicht fassen, dass ein derart außergewöhnliches Buch niemanden interessierte.
Er ließ sich davon nicht entmutigen und nahm die nächste Buchübersetzung in Angriff, diesmal eine Arbeit des italienischen Schriftstellers Curzio Malaparte. Seit Jahren bewunderte er dessen Gabe, mitreißend zu erzählen, er vergötterte seinen realistischen Stil und seinen Sinn für schwarzen Humor. Als er im ersten Studienjahr seinen Roman
Die Haut
gelesen hatte, war ihm vor Empörung in der Nacht sogar schlecht geworden, er verfluchte die Nazis. Es
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