Tod auf der Donau
hieß, sich nach dem Letzten zu richten – es war also mehr ein Stehen, denn ein Gehen. Den Gruppenschluss bildete der gebrechliche Arthur Breisky mit seiner fahrbaren Sauerstoffflasche, deren kleine Rädchen über das Kopfsteinpflaster holperten. Martin hoffte inständig, dass dieser Mensch in den nächsten Tagen nicht das Zeitliche segnete – der sympathische Mann hätte es verdient, zumindest bis zum Ende der Schiffsreise durchzuhalten. Sein Anblick gab allerdings wenig Anlass zur Hoffnung.
Wenn es nach ihm ginge, hätte Martin die Stadtbesichtigungen längst abgeschafft; so etwas kam allerdings nicht in Frage, weil dies ja verbindlich zugesichert worden war. Die Firma würde sich sonst Beschwerden und Klagen einhandeln. Der Reisekatalog war eine Heilige Schrift, und alles, was darin vermerkt stand, wurde auch durchgezogen, denn es gab tatsächlich Reisende, die den Plan jeden Morgen mit einem Stift in der Hand studierten und bei der geringsten Abweichung an die Zentrale mailten.
Die Passagiere kamen mit Hamburgern und Cola in ihren Händen zurück. Kurz nach dem Frühstück, stopften sich die Amerikaner nun schon wieder voll. Mona hatte unterdessen eingekauft. Sie hatte einen neuen Rock an, hielt einige Taschen in den Händen und lächelte sorglos.
Sie gingen nebeneinander, am Ende der Gruppe, in den engen Gassen pressten sie sich aneinander. Martin wollte von der Reisegruppe nicht beobachtet werden. Dort griff sie nach seiner Hand und schob sie unter ihren Rock, bis zum Schenkelansatz, damit er mitbekam, dass sie kein Höschen trug. Er sollte etwas tun, dachte er. Etwas Vernünftiges. Dann tat er genau das Gegenteil.
Er hetzte der Gruppe hinterher. Seit mehr als tausend Jahren besuchten die Menschen Passau, gingen den Goldenen Steg und den Salzweg entlang, über die Brücke und zur Porzellanmanufaktur. Aufdem heutigen Stadthügel hatten schon die Kelten ihre prähistorische Siedlung angelegt, im ersten Jahrhundert kamen die Römer, um die strategische Lage für ihre Festung zu nutzen; seit jeher war die Donau ein Limes, eine Grenze, und wer sie überschreiten wollte, musste mit Gefahren rechnen; sie trennte die Zivilisation von der Barbarei, den klaren Verstand von dunklen Instinkten. Auch die Römer konnten nur die westliche Seite, Pannonien, erobern. Diokletian gelang es, das Reich bis an das westliche Ufer auszuweiten. Später wurde Passau jahrhundertelang von katholischen Bischöfen regiert.
»Ich empfehle Ihnen, bayerische Lederhosen und Bierkrüge zu kaufen oder Hüte und Kappen«, erklärte Martin. »Freuen Sie sich auch so über das exzellente Wetter?«
»Ja! Nein, es ist zu warm! Es ist phantastisch! Wann wird es wieder kälter? Warum fahren wir nicht mit dem Bus?«, riefen die Amerikaner durcheinander.
Die Antworten machten Martin keine Mühe. Er sehnte sich zurück aufs Schiff, er wollte keine Sehenswürdigkeiten, er wollte Mona betrachten. Als er sie in der Kajüte endlich umarmen konnte, küsste er sie innig und euphorisch, jedenfalls bemühte er sich darum. Er empfand eine gewisse Genugtuung, dass sich sein alter Wunschtraum endlich erfüllte.
Er vernachlässigte seine Pflichten, und es war ihm vollkommen egal. Nach dem Essen ließ er sich an der Rezeption nicht mehr blicken. Nicht einmal O’Connor höchstpersönlich hätte ihn jetzt auf Trab gebracht.
»Du wolltest mir alles erklären, hast du gesagt. Was hast du eigentlich die ganzen Jahre über gemacht? Was hast du studiert?«, fragte Martin.
Mona räkelte sich auf dem Bett, mit einer Zigarette in der Hand – selbstbewusst und entspannt in ihrer Nacktheit.
»Das Leben«, antwortete sie. »Die Uni habe ich ausprobiert, zwei Semester Wirtschaft. Ich habe mich sogar ans Studieren gewöhnt, doch das Studieren sich nicht an mich.«
»Warum bist du verschwunden?«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich dir fehlen könnte. Du hast mich nie deinen Eltern vorgestellt. Hast mich nie zu dir eingeladen. Wo wohnst du eigentlich?«
»Ich wohne nicht mehr in Bratislava. Ich spreche das ganze Jahr über nur Englisch und verdiene Dollar. Ich lese amerikanische Zeitungen, schaue amerikanisches Fernsehen. Das hier ist mein Amerika auf der Donau. Meine Donau in Amerika.«
»Und deine Übersetzungen?«
»Die Arbeit hat mir Spaß gemacht und mich zugleich zerstört. Der Übersetzer ist in den Autor verliebt, er wird eins mit ihm, muss ihm treu sein, ohne sich aufzuzwingen, er muss sich unterordnen. Nur wer liebt, kann das wirklich verstehen.
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