Tod auf der Donau
dauern.
Eine damalige Reise nach Ungarn erforderte eine ähnliche Vorbereitung wie ein heutiger transatlantischer Flug eines verfolgten Drogendealers. In alte Cremetuben und Zeltstangen stopften die Eltern äußerst kompliziert westdeutsche Mark, in Rollen gewickelt, irgendwie hergeschmuggelt, zu einem absolut unzumutbaren Kurs. Die Geldwechsler wurden schon damals sehr reich – jeder wollte schließlich Schweizer Franken oder Dollar in seinen Taschen haben. Die tschechoslowakischen Kronen zerflossen einem nur so durch die Finger. In Einmachgläser füllte die Mutter für jeden Tag das Essen. In diesen zweiwöchigen Aufenthalt in einem Camp, das jeder seriöse Hygienebeauftragte sofort geschlossen hätte, investierten die Eltern ihre ganzen Ersparnisse.
Kaum aus Bratislava herausgekommen, ging das verdammte Fahrzeug kaputt. Der Keilriemen riss, und der Vater ersetzte ihn durch Mutters Strumpfhosen. Im Stau an der Grenze kam es zu weiteren spannenden Momenten, doch das Auto hielt irgendwie durch. Unfreundliche Zöllner strömten aus der Grenzstation, kontrollierten gründlich alle Dokumente, durchsuchten die überfüllten Autos und, wie gemunkelt wurde, tatsächlich auch so manchen Hintern. Die Menschen zitterten vor Angst. Doch dann winkte endlich einer mit der Hand, und der Vater gab, nunmehr auf ungarischer Seite, Gas.Martin war zum ersten Mal in seinem Leben im Ausland. Die Reise führte die Donau entlang. Als er endlich Budapest erblickte, machte der Auspuff Schwierigkeiten. Das Auto ratterte wie ein Maschinengewehr. Überall, wo sie hinkamen, ging das Licht an, ein Fenster nach dem anderen, weil sich die Menschen wohl dachten, erneut von der sowjetischen Armee besetzt zu werden.
Ein Hotel kam überhaupt nicht in Frage. Die Eltern fuhren zu dem Camp unweit der Donau. Das Zeltlager platzte aus allen Nähten. Die Grasfläche war mit Schlafsäcken und Autos übersät. Die Familie Roy fand kaum einen Platz, um das orangefarbene Zeltmonstrum aufzuschlagen, das, obwohl man sich drinnen weder bewegen noch bequem hinlegen konnte, ungefähr eine Tonne wog.
Die anderen Touristen reisten in ostdeutschen Plastikfahrzeugen an, produziert in Zwickau, mit dieser absurden Aufschrift »De Luxe« auf dem Kofferraum. Überall hörte man das lispelnde, sächsische Deutsch. Irgendetwas hing in der Luft. Selbst die Kinder spürten die Anspannung. Der Waschraum, den nicht einmal eine Kuh betreten hätte, wurde jeden Morgen von nervösen Ostdeutschen vereinnahmt, die keinesfalls einen Urlaub im Sinn hatten, sie flüsterten und tuschelten verschwörerisch und gaben sich sehr geheimnisvoll. Martin war das egal, er war absolut glücklich, dass im Schwimmbecken kaum einer badete.
Das Wort »Wellness« gab es damals noch nicht. Die Heilquellen interessierten Martin nicht die Bohne. Er hoffte, es würde ihm gelingen, neongrüne Schuhbänder, eine Spiegelsonnenbrille und eine gefälschte Jacke mit drei Streifen aufzutreiben. Seine Welt drehte sich um Schokopalatschinken, Plakate von Sandra und Michael Jackson, damals noch dunkelhäutig und außerordentlich lebhaft, beziehungsweise Comichefte in einer Sprache, die doch keiner verstand:
Köszönöm szépen!
Die Waren auf den Märkten sahen übertrieben grell aus. Stündlich kamen mehr Deutsche an, die zunehmend ärmer und verängstigter aussahen.
Eines Morgens wachte Martin verschwitzt im Zelt auf, in demeine Gluthitze herrschte. Verschlafen zog er den Reißverschluss hoch, steckte den Kopf hinaus und rieb sich die Augen, von einem gleißenden Licht geblendet. Zuerst dachte er, er würde träumen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, dass er doch wach und bei Sinnen war.
Die Roys waren ganz allein im Campinglager zurückgeblieben. Weit und breit kein anderer Mensch. Nur eine unvorstellbare, atemberaubende Stille. Rundherum standen einige verlassene Trabis. Die Kolonne an leeren Fahrzeugen zog sich an manchen Stellen mehrere Kilometer lang, bis zur Grenze, wo am 27. Juni der Stacheldraht durchschnitten worden war. Im zusammengetretenen Gras lagen einige ostdeutsche Produkte herum, doch für die interessierte sich Martin nicht. Trotz all der Einsamkeit überfiel ihn eine Euphorie. Die Eltern diskutierten, was sie weiter tun würden, und entschieden auch zu packen. Martin schritt zum verlassenen Becken. Etwas hatte sich wohl für immer verändert. Obwohl er noch keine Ahnung von Politik hatte, war ihm klar, dass gerade Geschichte geschrieben worden war, und gleichzeitig spürte
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