Tod auf der Fähre (German Edition)
wiederholte Ferrari die Frage.
«An Gott?»
«Sie sind bestimmt katholisch, so wie Ihre italienische Familie.»
«Ich bin kein … ja, ich bin katholisch und ich glaube an Gott.»
«Könnte es nicht sein, dass Frank für seine Taten bestraft wurde? Durch Gottes Hand in Gestalt eines Menschen?»
«Ich bitte Sie, Frau Vischer. So etwas sollte man nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen zu töten. Das ist Selbstjustiz.»
«Hat ein Richter, er ist auch nur ein Mensch, das Recht, über andere Leute zu bestimmen?»
«Ein Richter ist von anderen Menschen eingesetzt, um Recht zu sprechen.»
«Und Sie haben nie erlebt, dass ein Richter sein Amt missbrauchte?»
«Doch, leider. Ein Richter ist auch …»
«… nur ein Mensch, wollten Sie sagen. Wo ist da der Unterschied zwischen einem Richter und einem Menschen, der sich sein Recht nimmt?»
«Der Unterschied besteht darin, dass ein Richter von uns gewählt wird, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Wo kämen wir hin, wenn jeder seine Rechte oder das, was er als sein Recht betrachtet, selbst durchsetzen würde? Anarchie und Chaos wären die Folgen. Nein, Frau Vischer, meine Aufgabe ist es, den Mörder Ihres Mannes zu verhaften und ihn vor Gericht zu stellen. Und ich werde nichts unversucht lassen, meine Pflicht zu erfüllen.»
«Es war nur eine hypothetische Frage, Herr Ferrari. Graue Theorie, mehr nicht.»
Olivia Vischer verfiel ins Grübeln.
«Frau Vischer, rein theoretisch, kennen Sie den Mörder Ihres Mannes?»
«Und wenn es so wäre?»
«Dann sollten Sie es mir sagen.»
«Nein, ich kenne den Mörder nicht.»
«Oder anders herum gefragt, haben Sie eine Vermutung, wer Ihren Mann umgebracht haben könnte?»
«Nein!»
«Ich glaube Ihnen kein Wort, Frau Vischer!»
«Mit dem Glauben ist es so eine Sache, Herr Ferrari. Glauben ist nicht Wissen.»
«Sie verheimlichen mir etwas. Sie verdächtigen jemanden … mehr noch … Sie kennen den Mörder Ihres Mannes und Sie decken ihn aus irgendeinem Grund.»
«Blödsinn! Das bilden Sie sich nur ein.»
«Weshalb wollten Sie mir ausreden, weiter zu ermitteln?»
«Ich wollte es Ihnen nicht ausreden.»
«Ach ja? Dann täusche ich mich. Ich finde den Mörder, Frau Vischer, mit oder ohne Ihre Hilfe. Wenn Sie ihn kennen, geben Sie ihm oder ihr einen guten Rat von mir. Er oder sie soll sich stellen. Jetzt kann der Täter durch ein Geständnis noch mit einer milderen Strafe rechnen. Wenn ich ihn erwische, und ich werde ihn erwischen, dann gibt es für keinen Richter auf der Welt Anlass zur Milde.»
«Ich würde Ihre Ratschläge gerne befolgen, aber ich kenne den Mörder nicht», antwortete Olivia Vischer versöhnlich.
Der Kommissär verliess Frau Vischer mit sehr gemischten Gefühlen. Auf dem Weg zur Tramhaltestelle ging er das Gespräch nochmals Satz für Satz durch. Etwas Entscheidendes war ihm entgangen. Olivia Vischer kannte den Mörder ihres Mannes. Wann genau war ihm das klar geworden? Und was hatte ihn darauf gebracht? Verdammt noch mal. Wieder einmal war er ins Plaudern gekommen, hatte sich ablenken lassen und das Wesentliche nicht erfasst. Gedankenversunken liess er ein Tram nach dem anderen vorbeifahren, ohne einzusteigen. Wen wollte Frau Vischer schützen? Oder anders gefragt, wer stand Olivia Vischer näher als der Mann, den sie doch so vergötterte? Ganz gegen seine übliche Gewohnheit setzte er sich im Tram auf den nächstbesten Sitz, fuhr bis zur Endstation und wieder zurück ins Stadtzentrum.
Im Büro fand er drei Nachrichten vor. Die erste war von Baer. Kurz und bündig liess er ihn wissen, dass er vom Arzt zwei Wochen krank geschrieben sei, das Arztzeugnis folge per Post. Auch gut, dachte Ferrari. Dann kann ich mir den Überraschungsbesuch schenken. Die zweite stammte von Herbert Kuhn. Er sei den ganzen Tag in der Psychiatrischen Universitätsklinik zu erreichen. Der Kommissär schloss daraus, dass er seinen Anrufbeantworter abhörte. Olivia Vischer bat als Dritte um einen dringenden Termin, am liebsten noch heute, um sechs Uhr abends im Büro des Kommissärs. Ferrari konnte sich gut vorstellen, aus welchem Grund dieses Gespräch stattfinden sollte.
21. Kapitel
Bestens gelaunt entschied sich Ferrari Herbert Kuhn und dessen Freundin in der Klinik aufzusuchen. Heute noch würde er den Fall zu den Akten legen können. Olivia Vischers Reaktion und vor allem das Gespräch, das am Abend stattfinden sollte, würde mit grösster Wahrscheinlichkeit
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