Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
offene Gesicht des ungefähr zwanzigjährigen Offiziers sprach allerdings gegen diese Annahme. Ein Blick auf Van Helmont sagte ihm außerdem, dass er immer noch aus der Kabine hinausfliegen könnte.
»Na kommen Sie, alter Junge«, sagte er deshalb, »Doktor Van Helmont ist mein Arzt. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm, und ich möchte ihm auch nicht das Gefühl geben, ich hätte welche. Was haben Sie auf dem Herzen?«
Van Helmont grinste und schien genau zu wissen, dass er eingewickelt werden sollte. Irritiert wegen dieses Grinsens und noch immer sehr verlegen, kam Leutnant Carver endlich in die Kabine und allmählich sogar zur Sache.
»Nun ja. Ich sehe, dass Sie sich schon … äh!« Er wollte sagen: … eingerichtet haben, vergaß es aber angesichts der drohenden Kistengebirge und Kofferschluchten schnell und vollständig. Er nahm die Mütze ab.
»Was ich Sie fragen wollte, Thompson … Also, es geht um Ihre Schwester, Miss Emmeline. Ich weiß natürlich, dass sie einen schweren Verlust erlitten hat. Und Sie natürlich auch. Ich weiß auch, dass es vielleicht noch zu früh ist. Sie sollten aber wissen, dass ich schon kurz davor stand, Ihren Vater, Ihren seligen Vater, äh … dasselbe zu fragen.«
Dann wissen wir ja jetzt alle allerhand, hätte Gowers beinahe gesagt, während der Doktor wegsah, um den verstümmelten
Rest seiner Zigarre zu beseitigen und es dem jungen Mann ein wenig leichter zu machen. Abgesehen von all seinen Problemen mit dem Fall, seiner Unterbringung und nun auch noch dem Gespräch mit Carver, dachte Gowers sofort darüber nach, ob und wie er den Zigarrenstummel in einem unbeobachteten Moment in seine Blechkiste bekommen könnte.
»Kurz und gut«, fuhr der verlegene Leutnant fort. »Ich bitte Sie um … um die Erlaubnis, Ihrer Schwester den Hof machen zu dürfen!«
Der Investigator, der nun wirklich nicht damit gerechnet hatte, jemals über Emmeline Thompsons Glück zu entscheiden, überlegte nach der ersten Verblüffung, welche Ermittlungsvorteile ihm dieser unerwartete persönliche Machtgewinn verschaffen könnte, und bedauerte, für diese Überlegung so wenig Zeit zu haben. Van Helmont schien auch das zu bemerken.
»Nun, Leutnant Carver«, mischte sich der Arzt jedenfalls ein und warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick auf Gowers, »Mr. Thompson hier ist vielleicht noch nicht erfahren genug in solchen Dingen. Darf ich mir deshalb, als langjähriger Freund der Familie, die Frage erlauben, ob Sie über ein gesichertes Einkommen verfügen? Feste Bezüge? Wie hoch ist Ihr Sold, Sir? Können Sie Emme… Miss Thompson überhaupt eine Zukunft bieten?«
Gowers nickte zuerst dem Arzt und dann dem Besucher zu. Carver kannte natürlich seine gesamte Truppe, konnte eventuell auch Kontakte zu den Schiffsoffizieren herstellen – und das wäre ein bisschen Hofmachen schon wert. Auf die Höhe der Soldzahlungen in der britischen Indienarmee, Carvers Protektion durch einen Onkel im Generalsrang und andere Kleinigkeiten hörte Gowers dagegen nur mit halbem Ohr.
Erst als der Leutnant schon wieder eine Weile den Mund
hielt und nach einem auffordernden Blick Van Helmonts fiel dem Investigator noch die allseits erwartete Frage ein: »Nun, Carver, alter Junge, Sie wissen natürlich, dass ich Ihnen durchaus wohlwollend gegenüberstehe. Aber sagen Sie noch eins: Ihre Familie. Ich nehme nicht an, dass Ihre Leute von diesem … diesem Vorhaben wissen. Wie werden sie sich dazu stellen?«
Leutnant Carver konnte den Bruder seiner potenziell Angebeteten auch in dieser Hinsicht vollkommen beruhigen, brachte Gowers’ Selbstsicherheit dann aber mit einer abschließenden Frage gefährlich ins Wanken.
»Wenn ich Sie dann vielleicht noch nach der Höhe der Mitgift fragen darf, lieber Thompson?«
Van Helmont konnte ein hervorquellendes Gelächter gerade noch als kleinen Hustenanfall tarnen und krächzte: »Eine mehr als berechtigte Frage!«
Aber Gowers hatte sich schon wieder gefangen. »Nun, dazu kann ich natürlich nicht allzu viel sagen, Carver. Ich bin schon zu lange aus England weg. Es dürfte Sie aber interessieren, dass Emmeline die Alleinerbin unseres Vaters ist. Vater und ich, wir sind … wir waren … einander sehr fremd, sehr fremd geworden. Man könnte fast sagen: Wir kannten uns eigentlich nicht.«
»Das betrübt mich zu hören, Thompson, betrübt mich außerordentlich«, sagte Carver hocherfreut. »Dann darfich mich wohl empfehlen?!«
»Auf Wiedersehen, junger Mann«, sagte Van Helmont.
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