Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Auch das sah er an ihren Augen.
»Willst du meine Kätzchen sehen?«
»Ich kenne dich ja gar nicht.«
»Ich heiße Bob Jenkins. Ich wohne gleich dahinten.«
Seine Mutter hatte ihm beigebracht, dass man sich nennen kann, wie man will, jedenfalls wenn es seinen Zweck erfüllt.
Das Mädchen wurde unsicher. Der Junge war kleiner als sie, höchstens zehn. Er war sauber gekleidet, keiner der kleinen Straßendiebe, vor denen ihr Vater sie immer gewarnt und die er ihr sogar mehrmals gezeigt hatte.
»Mama hat gesagt, ich soll nur Nähgarn kaufen und dann gleich zurückkommen.« Sie sagte nicht, dass sie darum gebettelt hatte, allein ausgehen zu dürfen, weil sie sich dabei schon so herrlich erwachsen vorkam.
»Es ist ja nicht weit. Gleich da drüben. Es sind fünf, weißt du, ganz klein und ganz weich. Und alle haben noch die Augen zu.«
Das Mädchen schwankte, stellte sich fünf kleine Kätzchen vor, eng zusammengerollt unter dem warmen Bauch ihrer Mutter. Das konnte ja nicht allzu gefährlich sein. Außerdem war sie bestimmt stärker als Bob Jenkins.
»Aber nur ganz kurz.«
»Na klar. Aber angucken musst du sie. Vielleicht schenke ich dir eins.«
»Wirklich?«
»Sicher. Du musst dir nur eins aussuchen.«
Ein eigenes Kätzchen zu haben wäre bestimmt schön. Aber was würde ihre Mutter dazu sagen, wenn sie mit dem Tier heimkam? Sie hatten die belebte Straße überquert und waren erst wenige Schritte in die enge Gasse hineingegangen, als das Mädchen es doch mit der Angst bekam und stehen blieb.
»Ich gehe doch lieber nicht mit.«
Aber da war die unbekannte Frau schon hinter ihr, über ihr, packte ihre Hand fest wie ein Schraubstock und zog sie mit sich, die Stufen eines Kellereingangs hinunter. Das Mädchen wehrte sich, schrie um Hilfe, und an der Mündung zur Gasse blieb ein Mann stehen und blickte aufmerksam zu der kleinen Gruppe hinüber.
»Komm schon, verdammtes Balg«, schimpfte, keifte die Frau, den Passanten aus den Augenwinkeln im Blick. »Heute wird gebadet, da hilft dir niemand. Nichts als Ärger und Arbeit hat man mit den Gören!«
»Stell dich nicht so an, Cathy«, rief nun auch der Junge, »Wasser tut doch nicht weh!« Und zu dem Passanten gewandt, der langsam zu grinsen begann, sagte er, gekonnt die Augen verdrehend: »Mädchen!« Der Mann lachte und ging seiner Wege.
»Sie muss Geld dabeihaben, sie sollte einkaufen gehen«, sagte der Junge zu seiner Mutter, die das jetzt angststumme, zitternde Mädchen hart gegen die Wand drückte.
»Zuerst die Kleider. Zieh deine Sachen aus«, befahl sie. »Los, alles runter!«
»Tun Sie mir nichts!«, jammerte das Kind.
»Ich tu dir was, wenn du dich nicht sofort ausziehst!«, drohte die Frau und holte eine große Schere aus ihrem Beutel. Da gehorchte das Mädchen mit fliegenden Fingern, zog die feinen Schuhe, Strümpfe, das schöne blaue Kleid aus, und erst bei der Wäsche verzog sich ihr hübscher Mund zu einem breiten Kinderheulen.
Der Junge saß auf der obersten Treppenstufe und beobachtete sie, hatte aber auch immer ein Auge auf die Straße, die Stadt. »Sie hat das Geld in der linken Hand«, sagte er ruhig.
Seit einiger Zeit machte es ihm mehr Spaß, wenn sie Mädchen die Kleider stahlen, er wusste noch nicht, warum. Den Jungen brauchte er nur den Hut vom Kopf zu schlagen, um ein paar Ecken zu fliehen – aber nicht zu schnell, damit sie ihm folgen konnten –, dann hatten sie sie. Mädchen waren viel schwerer anzulocken, sie waren ängstlicher. Aber dafür wehrten sie sich nicht. Oder wenig. Und ihre Sachen waren mehr wert.
Beinahe blind vor Tränen und schamvoll dicht an die Wand gepresst, sah das Mädchen, wie die Frau ihre Kleider und Schuhe sorgfältig in ihrem Beutel verstaute. Dann warf sie ihr ein paar Lumpen zu.
»Anziehen!«, befahl sie.
»Ihiii!«, sagte das Mädchen, als sie die Fetzen auf ihrer weißen, weichen Haut spürte, und schauderte, schluchzte. Ungerührt fasste die Frau in einen Haufen Kehricht, den Wind, Regen und Sonne zusammengebacken hatten, und rieb ihr mit dem widerlichen Schmutz das Gesicht, Arme und Beine ein.
»Willkommen in der Gosse!«, sagte sie und verschwand so unheimlich schnell, wie sie gekommen war. Der Junge aber blieb sitzen und bewachte das Mädchen noch eine Weile.
»Das sag ich meiner Mama!«, sagte sie, immer noch zitternd vor Schreck und auch ein bisschen vor Scham, weil der Junge sie nackt gesehen hatte.
»Natürlich«, sagte er ruhig. »Aber erst mal gehst du hübsch langsam nach Hause. Und
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