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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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versuch erst gar nicht zu schreien. Wer würde dir glauben, so wie du aussiehst?«
    »Dann lass mich doch vorbei!«, bettelte sie, obwohl er sie gar nicht aufhielt, sondern einfach nur vor ihr auf der Treppe saß.
    »Da wäre noch das Geld«, sagte er.
    Sie ballte wütend die schmutzige Faust um diesen Schatz, von dem sie dachte, dass er ihn vergessen hatte. Und war er nicht kleiner als sie? Vielleicht könnte sie ihn verprügeln, ihn festhalten, seine Kleider stehlen?
    Aber all diese rasch erwogenen Pläne verflogen vor der unheimlichen Sicherheit, mit der der Junge sich erhob, auf sie zukam und lächelnd seine Hand ausstreckte. Sie fing wieder zu weinen an, als sie die kleine Münze hineinlegte.
    »Und geh langsam«, sagte er noch einmal. »Wenn du rennst, werden sie denken, du hättest gestohlen!«
    Während er über seinen eigenen Witz lachte, ging er tiefer in die dunkle Gasse hinein. Das Mädchen aber trat weinend mit nackten Füßen hinaus auf die Straße, die ihr eben noch gehört hatte und der sie nun gehörte, mit Haut und Haaren.

102.
    Am Anfang, als ihre Wunden heilten, hatte er sogar das harte, dunkle Brot für sie gekaut, es mit der Zunge in ihren zerbrochenen Mund geschoben, weil sie es nicht über sich brachte, die weichen, warmen Klumpen aus der hohlen Hand zu essen.
    »Guck, ich hab vorn auch keine Zähne«, hatte der Junge mit dem strahlenden Lächeln des Siebenjährigen gesagt und versucht, ihr zu zeigen, wie man trotzdem kauen kann.
    »Du bekommst aber neue.« Jane hatte ihm über den Kopf gestreichelt und gelächelt, aber nachdem sie in einem Spiegel gesehen hatte, wie das aussah, lächelte sie nie wieder.
    »Bekommst du denn keine neuen?«
    Zuerst hatte sie die Spiegel gehasst, aber sehr schnell herausgefunden, dass die ewig tastende Zunge viel grausamer war als jeder Spiegel. Als sie merkte, dass sie beim Reden spuckte und manche Buchstaben nicht mehr richtig aussprechen konnte, weinte sie, bis die Tränen nur noch beißender Staub in ihren Augen waren. Und als Ben sie eines Abends arglos bat, ihm etwas vorzulesen, verprügelte sie ihn zum ersten und einzigen Mal in seinem und ihrem Leben. Er fragte sie nie wieder danach, und bald konnte er selbst fließend lesen.
    Sie brachte niemandem mehr etwas bei. Die Schule war das
Erste, was sie verlor. Dann das Bett, Johns Bett, das sie nicht mitnehmen konnte, als sie Northumberland verließen. Aber das Bett hatte ihr schon vorher nicht mehr wirklich gehört, nicht mehr, seit Mary-Ann darin gestorben war.
    So kam es, dass Jane Gowers, wie sie sich nun wieder nannte, kein Jahr, nachdem sie London verlassen hatte, wieder vor der Tür ihrer damaligen Pension stand und zur Kenntnis nehmen musste, dass der Preis für ihr Zimmer um einen Shilling pro Woche gestiegen war, »wegen dem Jungen!«. Ihre Bemerkung, dass das Zimmer aber nicht größer geworden sei, wurde sehr ungnädig aufgenommen, und die jämmerliche Sicherheit, auch nur an einen Ort zu kommen, den man schon kennt, wich wieder der Fremdheit der Straßen.
     
    Fast zwei Jahre lang machten sie gute Geschäfte mit Schreibarbeiten. Jane hatte mit ihrem letzten Geld Feder und Papier, einen Stuhl und ein einfaches Brett gekauft, das sie auf ihre Knie legte. Ben sorgte mit bemerkenswertem Geschick für die Kundschaft in diesem fliegenden Büro, mit dem sie von den East India Docks bis zum Kensington Park zogen.
    »Haben Sie etwas zu schreiben, Sir? Eine Rechnung, einen Glückwunsch, eine Einladung? Einen Gruß an Ihre Eltern, einen Brief an Ihre Liebste? Stellengesuche! Bittschriften!«
    Um Zudringlichkeiten zu vermeiden und wegen des Reklameeffekts trug Jane eine Brille mit Fensterglas, und beides funktionierte. Die Matrosen waren meist rührend schüchtern, manche nahmen sogar die Mütze ab, wenn sie vor Jane standen und unbeholfene Briefe an Mütter, Verlobte, Ehefrauen formulierten. Jane stellte sich dann vor, wie diese Briefe ankamen, von Hand zu Hand gingen, von Pfarrern oder Gemeindeschreibern vorgelesen wurden und schließlich wie kostbare Schätze in alten Zuckerdosen oder unter Kopfkissen
aufbewahrt wurden. Manchmal schlug sie kleine poetische Wendungen vor, und die Seeleute strahlten.
    »Das ist genau, was ich sagen will, Miss!«
    Ben vergaß bei diesen Gelegenheiten manchmal sogar, neue Kunden anzulocken. Stand nur da und hörte mit offenem Mund, wo diese Männer überall gewesen waren und was sie alles gesehen hatten.
    Unangenehm waren die Stutzer, Studenten: reiche Jünglinge, die sich,

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