Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
meist in kleinen Rudeln, einen Spaß daraus machten, Jane obszöne Briefe an imaginäre Geliebte zu diktieren.
»Sind Sie sicher, dass man Fotze mit T schreibt, Miss?«
»Ja. Sind Sie sicher, dass Sie wissen, was das ist?«
Das Geschäft war bei gutem Wetter sehr einträglich, und am Anfang verdienten sie manchmal an einem Tag, was sie in einer Woche brauchten. Aber wie bei jeder guten Idee fanden sich Nachahmer, die es in jeder Hinsicht übertrieben. Männer mit Ärmelschonern saßen an den Straßenkreuzungen vor grotesken, überdimensionalen Tintenfässern, prahlten mit der Qualität ihres Papiers und versprachen sogar Urkunden oder Beglaubigungen, bis die Notare sich darüber beschwerten und die Polizei dem »Unfug öffentlicher Schreibstuben« ein Ende machte.
Eine Weile versuchten sie es noch in Kneipen oder Hotels, gingen auch dazu über, vorgefasste Grußkarten oder kleine Gedichte zu verkaufen, mussten aber gerade im Winter immer wieder ihre bescheidenen Rücklagen angreifen.
Jane hatte sich geschworen, weder zu hungern noch zu betteln und auch nicht unter einen gewissen Standard zu sinken, saubere Kleider zu tragen und nicht zu verlausen. Sie dachte über Prostitution nach, ganz nüchtern, erwog ihre Chancen, ihren Ekel, konnte aber dann die Vorstellung nicht ertragen,
dass jemand ihren Körper besitzen würde, und hatte auch Angst vor Geschlechtskrankheiten. Da sie demnach nichts hatten und auch nichts produzieren konnten, was in dieser Warenwelt verkäuflich war, mussten sie sich eine Ware verschaffen.
Die Idee mit den gestohlenen Kinderkleidern, die sie bei den jüdischen Altkleiderhändlern rund um Houndsditch verkauften, kannte Jane aus Merciers Tableau de Paris . Es mochte gemein sein, war aber für Täter und Opfer ungefährlicher als das meiste, was sonst auf den Straßen Londons geschah.
Ben lernte dabei, unbewusst, ungewollt die wichtigste Lektion seines Jahrhunderts, so sehr entsprach sein Blick auf seinesgleichen schließlich der Sichtweise eines ganzen Zeitalters: Er betrachtete, er taxierte die Menschen nurmehr als mögliche Beute.
103.
Maude Parker war die einzige Tochter des wackeren Missionars, die sich hin und wieder Anfechtungen weltlicher Art ergab. Natürlich nicht solchen, die man sogar in der Welt Anfechtungen nannte: Keinen Sünden des Fleisches oder auch nur des Begehrens, dagegen hatte ihr würdiger Erzeuger ihnen allen ein unfehlbares Mittel beigebracht. Keinen Dornengürtel, kein Fasten, keine stundenlangen Litaneien wie bei den Papisten. Nein, ihr Mittel war so einfach und komisch, dass immer alle lachen mussten, wenn ein Familienmitglied es plötzlich gebrauchte.
Sobald Maude ihren Körper spürte, ihr Bauch warm und weich, ihre Brustspitzen hart wurden, setzte sie sich auf einen Stuhl, schloss die Augen, breitete die Arme aus und hob ihre
Füße etwa zwanzig Zentimeter hoch in die Luft. Die seltsamen Gedanken vergingen dabei von ganz allein, der Kopf wurde klarer, der Körper straffte sich. So hatte sie schon ihre Schwestern, ihre Brüder und sogar ihren Vater – aber nie ihre Mutter – sitzen sehen, und man darf deshalb sagen, dass Maude Parker sich gegen fleischliche Anfechtungen wohl zu wehren verstand.
Was ihr zusetzte, was sie suchte, was ihr gefiel, waren verbotene Lüste anderer Art. Sie machte sich gern Gedanken. Sie sonderte sich ab von der Herde, ging allein umher und dachte selbstständig nach. Meist über Gott, so fing es immer an, weil das doch eigentlich keine Sünde war. Manchmal kam sie sich dabei sogar fromm und gut vor – ging dann aber eben auch dazu über, eigene Überlegungen über Gottes Schöpfung, die Sinnhaftigkeit aller Dinge und sogar des Menschen anzustellen, ohne geistlichen Beistand, nur so für sich.
Einmal hatte sie ihren Vater deswegen um eine Züchtigung gebeten. Die war ihr zuteilgeworden, hatte sie aber nicht von ihrem eigenen Kopf erlöst. Auch, nein, besonders nach ihrem nächtlichen Abenteuer in der Takelage zeigte sie nun sogar schon Interesse an so entsetzlich profanen Dingen wie dem Schiff, seiner Technik, den Prinzipien seiner Fortbewegung.
In der Saling hatte sie gesessen, auf dem Fockmast , und schon beim Auslaufen von St. Helena lauschte sie mit einem geheimen, sündhaften Vergnügen auf die seltsamsten Worte: Vorstengestag, Außenklüverfall, Bramgording, Gaffelliek – mein Gott, aufmerksamer als auf die Worte der Predigt. Sie wiederholte sie in ihrem Kopf, fragte sich, was sie bedeuteten. Bisweilen trieb sie
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