Tod auf der Piste
getan hätte. Ernst Buchwieser hatte sie lange Perioden ihres Lebens allein gelassen, sie hatte sicher unzählige Male allein geweint, und sie würde es wieder tun. Vielleicht ein letztes Mal.
3
Irmi startete ihr Auto und fuhr langsam durch das Wohngebiet unterm Kramer. Sie dachte an die vielen Bücher bei den Buchwiesers und an die Spaziergänge auf die Oberbrunnalm. Ihr wurde bewusst, wie weit sie selbst sich von einem normalen Leben entfernt hatte. Wann hatte sie das letzte Buch gelesen? Wann hatte sie Zeit gehabt, auf einen Berg zu steigen?
Vor ein paar Wochen war sie in Igls gewesen, mit ihm . Das war schon so lange her. Ihr Leben bewegte sich zwischen der Ermittlungsarbeit und der Hilfe am Hof ihres Bruders. Ihr Leben bestand darin, zu tun, was eben getan werden musste. Mörder fassen. Kühe melken. Heu einführen.
Ihr Leben war von Zeitdruck geprägt. Den Mördern durfte man nicht zu viel Zeit zur Flucht geben, die Kühe mit den prallen Eutern hatten auch nur begrenzt Zeit, und beim Heueinführen saßen einem ständig Gewitter im Nacken. Muße war für Irmi ein Fremdwort.
Während des Gesprächs hatte sie sich ein paar Notizen gemacht. Sie würde auf jeden Fall am nächsten Tag nach Ettal fahren müssen. Und tief drinnen spürte sie, dass sie das beunruhigte und verunsicherte. Sie war ein Mädchen vom Bauernhof, und sie fürchtete sehr wohl Tod und Teufel – und hochgebildete Gottesmänner, weil sie denen nicht Paroli bieten konnte.
Im Büro rief Irmi beim Tagblatt an, wo eine Bekannte im Sekretariat arbeitete. Diese bat sie, ihr möglichst alle Artikel über Buchwieser zuzumailen. Wenig später vertiefte sie sich in die vielen Texte – Buchwieser hatte sich nicht über mangelnde Medienpräsenz beschweren kön-nen.
Ihr Handy meldete sich. Es war Kathi.
»Und, ist Sophia wieder aufgetaucht?«
»Ja, sie hatte sich beim Nachbarn im Heustadel versteckt. Sie wollte mich ärgern, weil wir heute früh einen kleinen Disput gehabt haben. Ich hatte ihr etwas verboten, und das wollte sie nicht akzeptieren!« Kathi klang wütend und hilflos zugleich.
Sophia hatte den starken Willen ihrer Mutter geerbt. Und deren Unnachgiebigkeit. Die beiden würden noch größere Schlachten ausfechten, da war sich Irmi sicher. Sie enthielt sich jeden Kommentars, denn das Totschlagargument »Na, du hast eben keine Kinder« kannte sie zur Genüge. Sie hatte es sich angewöhnt, in Fragen der Kindererziehung nichts zu sagen. Sie redete nur da mit, wo sie sich auskannte: Viehhaltung, Forstwirtschaft, Mord und Totschlag.
Kathi fuhr fort: »Ich hab mal recherchiert, und weißt du was: 1978 gab es bei der WM einen Skandal. Der Bruder von Ernst Buchwieser, ein gewisser Kurt, hatte wahnsinniges Pech: Beide Stöcke sind gebrochen, und so hat er keinen Medaillenplatz bekommen. Ich habe etwas weitergegraben: Dieser Kurt hat sich 1983 umgebracht.«
»Gute Arbeit. Das deckt sich mit meiner Befragung.« Irmi berichtete kurz vom Gespräch mit Maria Buchwieser.
»Wow. Der Buchwieser muss ja ein Herzchen gewesen sein!«, meinte Kathi.
»Ja, allerdings. Eine sehr facettenreiche Person – neutral formuliert.« Irmi lachte kurz auf. »Hast du sonst noch was gefunden?«
»Bloß ein paar Unfälle und Diebstähle – nichts, was für unseren Fall relevant ist. Aber die Sache mit den abgerissenen Stöcken kann doch kein Zufall sein. Und heute früh fährt dieser Ernst Buchwieser mit der Startnummer seines Unglücksraben-Bruders auf die Piste!«
»Die Frage wird uns bestimmt noch beschäftigen, aber morgen fahren wir erst mal nach Ettal, hinauf in die himmlischen Höhen. Da hatte Buchwieser nicht nur Fans. Bis dann.«
Als Irmi auf den Hof fuhr, war es stockdunkel. Aber Bernhard, der wahrscheinlich beim Wirt war, hatte zwei Außenlampen entzündet. Der Kater huschte heran.
»He, Kater, hat er dich wieder ausgesperrt? Komm her!« Der Kater hieß Kater. Er war ein Kater mit einem dicken Katerschädel und etwas dümmlich-verdutztem Gesichtsausdruck. Sie hatten Generationen von Katzen besessen, die weiblichen waren immer kühner gewesen, die Kater dagegen treudoof und dicklich. Kater konnte so dumm aber nicht sein, er war nämlich schon zwölf Jahre, und das war auf diesem Hof ein biblisches Alter. Alle Katzen vor ihm waren nach einigen Jahren Autos oder Mähmaschinen zum Opfer gefallen. Unterm Apfelbaum befand sich ein halbes Gräberfeld. Bernhard hätte die Viecher lieber anders entsorgt, aber da war sie wütend geworden. Tiere entsorgte man nicht
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