Tod auf der Piste
das sie aneinander so bezauberte. Er war ihr ebenbürtig, und das bezog sie nicht auf den Bildungsstand, nicht auf Geld oder Ansehen, nein: er war der erste Mann, ja, sogar der erste Mensch, der ihr emotional ebenbürtig war. Der so fühlte wie sie. Er war bereit gewesen, sich zu öffnen, ihr all seine Liebe zu geben bis auf eine kleine Reserve. Er legte die Karten offen auf den Tisch, und doch hatte er noch ein Blatt im Hinterhalt. Das tat er nicht, weil er taktierte oder die Oberhand behalten wollte, nein, er bewahrte diese letzte Reserve auf, weil es das Einzige ist, was einen im Notfall retten und am Leben erhalten kann. Sie verstand ihn zu gut, denn sie war genauso. Klar und mutig, bereit, ohne Murren und Lamentieren das zu tun, was eben zu tun war. Sie waren wie Zwillinge, die irgendwann einmal getrennt worden waren und sich nun wiedergefunden hatten.
Er verstand, dass sie bei diesem verdammten Pferdefilm heulen musste, in dem die kleine Maggie immer in die Schule geritten war mit dem schönen schwarzen Pferd. Bis die Ernte so schlecht war und das Pferd weggegeben werden musste. Dieser traurig-schöne Film vom Pferd, das die Tausende von Meilen heimlief und eines schönen Tages abgemagert im strömenden Regen vor der Schule stand und die kleine Maggie abholte. Allein wenn sie die Bilder in ihrem Inneren noch mal vorbeiziehen ließ, begann sie zu heulen. Er heulte bei solchen Filmen auch, obwohl er der männlichste Mann war, der ihr je begegnet war. Sie hatten spaßeshalber einen »Heulsusenclub« gegründet und sich darum gestritten, wer den Vorsitz übernehmen würde.
Irmi wischte sich ein paar Tränen ab. Sie wollte glauben, dass auch er eines Tages heimkommen würde. Es gab so viele Verluste zu ertragen. Es wurden immer mehr, die nur noch in der Erinnerung lebten: der Vater, die Mutter, all die Hunde und Katzen, die überfahren auf der Straße gelegen hatten. Irmi wusste aber auch, dass Zeit ein sehr relatives Konstrukt war. Was waren ein paar Jahre schon, wenn man die Aktendeckel fest geschlossen hielt?
Irmi war sich bewusst, dass sie gerade ein paar Deckel geöffnet hatte und eine Vergangenheit ans Licht zerrte, die die Betroffenen über die Jahre so mühsam unter Verschluss gehalten hatten. Sie hatte keinerlei Zweifel daran, dass diese Schutthalden der Erinnerung irgendwann in Schieflage geraten würden, dass sie zu rutschen beginnen, dass sie zu Muren und zu Felsstürzen werden würden. Keiner konnte seiner Vergangenheit auf Dauer entfliehen.
Sie verließ ihr Büro, fuhr heim, aß drei Butterbrote. Als sie gerade das Licht löschen wollte, kam eine SMS: »Meine allerliebste Liebste, ich habe dir ein Paar Schnürsenkel für deine Bergschuhe geschickt. Deine waren bei unserem letzten Ausflug auf dem Patscherkofel doch sehr in Mitleidenschaft gezogen. Mir ist zum Heulen ohne dich. Der Clubvorsitz geht an mich.«
Unter Tränen lachte sie. Welcher Mann hätte sonst bemerkt, dass sie neue Schnürsenkel brauchte? Sie simste zurück: »Der Vorsitz geht an mich! Ich vermisse dich.«
17
Als Irmi erwachte, hatte sie fiese Rückenschmerzen. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie sich verkrampft hatte im Schlaf und weit prosaischer daran, dass sowohl Wally als auch Kater in ihrem Bett lagen und sie sich irgendwie um die Viecher herumgewunden hatte. Wally gähnte herzhaft, was ihren schlechten Mundgeruch unvorteilhaft zur Geltung brachte.
Es war kurz vor sechs, Bernhard rumorte in der Küche. Es war der Tag dieser unsäglichen Hochzeit, und sie hatte immer noch kein Dirndl. Irmi absolvierte die Stallarbeit in gewohnter Routine. Sie duschte, versuchte ihre Haare hochzustecken, und starrte voller Verzweiflung in ihren Schrank. Es half jetzt alles nichts, Irmi setzte sich ins Auto und fuhr zu Elisabeth, einer Nachbarin, die ebenfalls auf die Hochzeit eingeladen war.
»Lissi, ich hab kein Dirndl«, sagte sie. »Ich hab sowieso nichts außer Jeans und Latzhosen. Zu Hilfe!«
Lissi lachte. Dann häufte sie ein ganzes Sortiment an Dirndln und Röcken auf den Küchentisch. Gottlob war sie ziemlich mollig, wenn auch kleiner als Irmi, aber am Ende hatten sie eine tragbare Kombination gefunden. Gut, das schwarze Taftdirndl mit der leuchtend türkisfarbenen Schürze wirkte für Irmis Geschmack einen Tick zu edel, es hätte auch ein paar Zentimeter länger sein dürfen, aber als sie skeptisch in den Spiegel blickte, musste sie zugeben, dass Dirndl einfach perfekte Kleidungsstücke waren, wenn man ein paar Kilo zu viel
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