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Tod auf der Piste

Tod auf der Piste

Titel: Tod auf der Piste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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vor langer Zeit, aber ihr fehlte die Erinnerung. Und wenn man jung ist, kommt einem der Himmel so weit vor, und es bleibt so viel Zeit. Zeit für Pläne, Zeit für Träume, Zeit, um Fehler zu korrigieren und letztlich doch nur neue zu machen.
    Er war ein Urlaubsgast in der Ferienwohnung gewesen, und schon am ersten Tag war sich Irmis gesamte Familie einig gewesen: »Er ganget ja, aber sie!« Auch die beiden Töchter waren nette Mädels, aber die Ehefrau wirkte streng, irgendwie innerlich zerfressen, uncharmant, nicht eben hässlich, aber unattraktiv wegen ihres pessimistischen Gesichtsausdrucks. Sie war an nichts interessiert außer an Ausflügen nach Innsbruck zum Shopping. Er hatte beim Kreiseln den Bulldog gesteuert, er hatte Holz gehackt. Er hatte Bernhard beim Bau des neuen Stadels geholfen, er hatte Strohballen durch die Luft geworfen, und er hatte gelacht. Voller Offenheit und Lebensfreude.
    Irmi hatte das fast beschämt registriert: Sie wohnte in der schönsten Gegend der Welt und nahm das einfach so hin, aber er hatte ihr die Augen geöffnet. Und der Himmel hatte sich geweitet, und auf einmal war wieder Platz für einen weiten Horizont. Und irgendwo, tief drinnen im Ordner mit der Beschriftung »Für später«, in dem all die hoffnungsvollen Pläne abgeheftet waren, hatte ein kleiner Gnom den Deckel von innen aufgeschoben. Es staubte ein wenig, knarzte auch, aber da waren sie wieder: all diese Hoffnungen von einer Liebe ohne Leiden, von Respekt ohne Taktik, von der Gewissheit, dass nichts, wirklich gar nichts Grauenvolles passieren kann, wenn man liebt und zurückgeliebt wird. Von der Sicherheit, vom Sichfallenlassen, vom Schwachsein, vom Weinendürfen… Irmi hatte nie die Zeit gehabt, schwach zu sein.
    Sie waren durch den Sommer gezogen, vier Wochen lang, und dann noch mal in den Herbstferien und den Winterferien, als er allein mit seinen Töchtern da gewesen war. So sehr, dass es schmerzte und der Himmel einstürzen wollte, so sehr hatte sie noch niemals einen gewollt. Sie hatte ihn so sehr mit dem Herzen gewollt, erst mit dem Herzen und dann auch mit dem Körper. Er war ein schöner Mann, auch heute noch, mit diesen muskulösen Oberschenkeln, dem hübschen Hintern, dem breiten Brustkorb. Sie hatte ihn vor einigen Wochen in Innsbruck gesehen und gespürt in einem kleinen Hotel in Igls. Jedesmal wenn er weg war, hatte sie das Gefühl, dass das Leben nicht mehr weitergehen könne. Das Leben ging natürlich weiter, aber eine solche Intensität auf der Sehnsuchtsskala hatte sie vorher nicht gekannt.
    Irmi starrte auf den Aktendeckel. Was blieb schon übrig vom Leben außer abgelegten Akten? In ihrer persönlichen Aktensammlung hatte sie ihre Sehnsucht in einem anderen Ordner aufbewahrt, der die Beschriftung »Zauberhaftes« trug. Das klang besser als »Verlorenes«. Er war bei seiner Frau geblieben, vorerst, wegen der Kinder. Wie lange war vorerst? Heute, fünf Jahre später, war die Große vierzehn. Er war bei einer Frau geblieben, die ihn blockierte, anstatt ihn zu fördern, die ihn klein halten wollte, weil sie selber nur Kleinmut in sich spürte. Man kann Flügel stutzen und Volieren bauen, sogar goldene Käfige, und Leckerlis ausstreuen, doch wird das alles nichts nützen. So eine Frau kann das Fliegen nicht verhindern, nur weil sie selber keine Flügel hat. Irmi war sich sicher, dass er eines Tages gehen würde, aber ob es für sie dann noch eine Chance gab? Irgendwann in diesen Jahren, in denen sie sich immer mal wieder getroffen hatten zu Kurzurlauben und kleinen Fluchten wie vor vier Wochen, hatte der Efeu begonnen, das Traumschloss zu überwuchern.
    Seine Frau, die beteuerte, ihn zu lieben, war eine Egoistin, eine armselige dazu. Warum war sie dann nicht stolz auf ihn, der sich so problemlos und sympathisch in Situationen und Menschen einleben konnte? Der als Preiß sofort die Sympathien auf seiner Seite gehabt hatte. Der am dritten Tag am Stammtisch an der Brücke zu hören bekam: »Zu uns hocksch du hi!« Aber seine Gattin konnte sich nicht am Flug des Adlers erfreuen.
    Irmi räumte ihm einen Platz ein, egal ob er mit Blumen kam oder mit Schmerzlichem. Sie liebte ihn bis heute und hatte ihn trotzdem gehen lassen. Das Leben funktioniert nämlich nur, wenn man frei sein darf. Er liebte sie auch, würde sie lieben bis ans Ende allen Lichtes, aber er war nicht frei.
    Sie hatte am Bett ihrer Mutter viel Zeit gehabt, über Beziehungen nachzudenken, erst ganz allmählich hatte sie erfasst, was es war,

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