Tod auf Ormond Hall
hatte sie ihr als einen der wichtigsten Teile seines Zuhauses gezeigt. Zum Teil waren die verwitterten Steine mit Moos bewachsen. Deutlich konnte man noch erkennen, wo sich der Rittersaal und die Küche befunden hatten.
Die schwere Turmtür knarrte, als Michelle sie aufschob. Die junge Frau zögerte einen Augenblick, bevor sie in den dahinterliegenden Raum trat. Da durch die schmalen Schießscharten nur wenig Licht fiel, war es so dunkel, dass sie kaum die Treppe zu erkennen konnte, die in vielen Windungen nach oben führte. Doch dann hatten sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt und sie machte sich an den Aufstieg.
Michelle hatte fast das Ende der Treppe erreicht, als sie vor sich plötzlich eine leichte Bewegung wahrnahm und sie ein Hauch von 'Cloe' streifte. Sie ging etwas schneller und sah gerade noch, wie eine weiße Gestalt um die nächste Biegung huschte.
"Bleiben Sie stehen!“, befahl sie erfolglos.
Die weiße Gestalt glitt durch die massive Tür, die auf den Sö ller hinausführte. Michelle schnappte nach Luft. Das Atmen fiel ihr schwer. Jedes Härchen an ihrem Körper richtete sich auf. Erst nach einigen Sekunden war sie in der Lage, wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie öffnete die Tür und trat in das helle Licht hinaus. Die weiße Gestalt stand einige Meter von ihr entfernt an der Brüstung des Söllers. Michelle erkannte, dass es sich um die junge Frau ha ndelte, die während der Nacht in ihrem Zimmer gewesen war. Die Fremde sah sie unverwandt an. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln.
Michelle empfand keine Angst, obwohl sie sich jetzt ganz s icher war, einen Geist vor sich zu haben. Es war heller Tag, sie träumte nicht. Sie machte einige Schritte in Richtung der Erscheinung und streckte die Hand aus.
Noch immer lächelte die junge Frau. Auch sie streckte die Hand aus. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Ein unendliches G efühl der Geborgenheit durchströmte Michelle. "Danielle", flüsterte sie und konnte nicht einmal sagen, woher sie wusste, dass es sich bei der jungen Frau um Danielle handelte. Und wer war Danielle?
Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich Danielles G esicht. In ihren Augen stand namenloses Entsetzen, ihr Mund war zu einem Schrei geöffnet. Sie rannte zur anderen Seite des Söllers. Es sah aus, als wollte sie sich an die Brüstung klammern, aber dann stürzte sie nach unten. Michelle hörte sie nicht schreien, dennoch schien ihr Schrei durch den Park zu hallen.
Zitternd beugte sich Michelle über die Brüstung. Für den Bruchteil einer Sekunde gewahrte sie den zerschmetterten Körper der ju ngen Frau unten auf den Steinen, dann löste er sich auf.
"Danielle", wiederholte Michelle. Der Name klang in ihr nach. Sie fühlte, dass es zwischen ihr und dieser jungen Frau eine Ve rbindung geben musste. Nachdenklich nahm sie die halben Münzen aus ihrer Rocktasche. Hatte die eine Hälfte Danielle gehört? Sie nahm sich vor, es herauszufinden. Aber vor allen Dingen musste sie in Erfahrung bringen, ob von diesem Turm wirklich eine junge Frau in den Tod gesprungen war. Noch immer glaubte sie das namenlose Entsetzen in Danielles Augen zu sehen. Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen.
9.
Michelle brachte es nicht fertig, mit ihren zukünftigen Schwiegereltern oder Kevin über Danielle zu sprechen. Sie befürchtete nach wie vor, ausgelacht zu werden. Danielle war schließlich kein Wesen aus Fleisch und Blut. Kevin stand mit beiden Beinen fest im Leben, und auch seine Eltern schienen nicht an Geistererscheinungen zu glauben. Auf ihre Frage nach etwaigen Familiengespenstern hatten die Ormonds nur gelacht. So vertiefte sich die junge Frau in der Familienchronik, um herauszufinden, ob jemals eine Danielle auf dem Besitz gelebt hatte. Erfolg hatte sie dabei allerdings nicht. Der Name wurde nirgends erwähnt.
Einige Tage nach ihrem ersten Besuch im Turm, beschloss M ichelle, noch einmal hinaufzusteigen. Halb und halb hoffte sie, Danielle wiederzusehen. Aber diesmal hatte sie kein Glück. Sie war im Turm völlig alleine. Dennoch kehrte sie nicht zurück, sondern blieb auf dem Söller stehen und betrachtete die Umgebung.
Plötzlich sah sie einen dunkelgekleideten Mann aus dem kle inen Wald kommen, der das Anwesen der Ormonds umgab. Er hielt Blumen in der Hand. Trotz der Entfernung war sie sich sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben. Der Fremde wandte sich nicht dem Herrenhaus zu, sondern betrat die Ruinen. Michelle beobachtete, wie er die Blumen am Fuß des Turmes
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