Tod auf Ormond Hall
niederlegte, dann ging er um den Turm herum und verschwand in dessen Eingang.
Auf dem Söller gab es nichts, wo die junge Frau sich hätte ve rstecken können. So lehnte sie sich gegenüber der Tür gegen die Brüstung. Angst empfand sie nicht. Aus was für einen Grund hätte der Fremde ihr etwas tun sollen?
Es dauerte nicht lange und die Tür öffnete sich. Vom Sonne nlicht geblendet trat der Mann ins Freie. Er beschattete die Augen mit der Hand. Als er Michelle bemerkte, entfuhr ihm ein überraschter Laut.
"Ich wollte Sie nicht erschrecken", sagte die junge Frau. "Ich sah Sie auf den Turm zugehen. Sind Sie ein Mitglied der Fam ilie?"
"Gott bewahre mich davor!“, entfuhr es ihm. Er trat zur Seite und ließ die Hand sinken. "Aber Sie sind auch keine Ormond", stellte er fest. "Sie ..." Seine braunen Augen musterten sie intensiv. "Wie ist Ihr Name?“, fragte er unsicher. "Es ist seltsam. Wir haben uns nie zuvor gesehen, aber de nnoch sind Sie mir vertraut."
"Ich heiße Michelle Bryant", antwortete die junge Frau und erwartete, dass sich der dunkelblonde Fremde nun seinerseits vo rstellte.
"Michelle", wiederholte er und stieß heftig den Atem aus. "Mein Name ist Roger Nevins. Ich besitze in der Nähe von O rmond Hall ein Landhaus. Meistens bin ich allerdings nur am Wochenende in Wales." Wieder blickte er sie intensiv an. "Ich begreife das nicht. Sie sind ein ganz anderer Typ und dennoch erinnern Sie mich an eine junge Frau, die ich einmal gekannt habe." Tief in Gedanken trat er an die Brüstung und schaute auf die Ruinen hinunter. "Wissen Sie, dass dieser Turm bereits im zwölften Jahrhundert erbaut wurde?"
"Sind Sie ein Freund der Ormonds?“, erkundigte sich Michelle, ohne seine Frage zu beantworten.
"Das kann man kaum behaupten." Roger Nevins wandte sich ihr wieder zu. "Mir ist es streng untersagt worden, den Besitz der Ormonds zu betreten, aber es zieht mich immer wieder her." Er lehnte sich gegen die Mauer. "Und Sie?“, fragte er. "Was haben Sie mit den Ormonds zu tun?"
"Ich werde in einigen Wochen Kevin Ormond heiraten", erw iderte Michelle.
"Das dürfen Sie nicht!" Rogers Gesicht verzerrte sich. "Wenn Sie diesen Mann heiraten, laufen Sie mit offenen Augen in ihr Unglück. Bitte glauben Sie mir, er taugt nichts. Er ..."
"Was erlauben Sie sich?“, fiel ihm die junge Frau empört ins Wort. "Sie sollten jetzt besser gehen, Mister Nevins." Michelle wandte ihm den Rücken zu. Sie war so wütend, dass sie sich zwingen musste, ihm nicht ihre Fingernägel ins Gesicht zu stoßen. Wie konnte dieser Mann es wagen, so über Kevin zu sprechen? Ausgerechnet über Kevin!
"Bitte, verzeihen Sie mir, ich hätte meinen Zorn nicht mit mir durchgehen lassen dürfen", sagte Roger. Er berührte ihre Schulter. "Ich musste nur an die junge Frau denken, die hier vor fünf Jahren den Tod gefu nden hat. Sie ..."
"War ihr Name Danielle?" Michelle fuhr herum.
"Ja, Danielle." Roger nickte. "Vermutlich hat Ihr Verlobter von ihr gesprochen."
"Nein, Kevin hat Danielle mit keinem Wort erwähnt", erw iderte Michelle. Obwohl sie Roger erst kennen gelernt hatte und es für sie noch keinen Grund gab, ihm zu vertrauen, erzählte sie ihm von der Erscheinung. "Die junge Frau hatte lange, blonde Haare und wunderschöne blaue Augen. Ich sprach sie an, aber sie antwortete nicht, trotzdem wusste ich, dass sie Danielle heißt."
"Sie scheinen medial begabt zu sein, Miss Bryant", bemerkte Roger beeindruckt. "Ja, Danielle war blond und hatte die schö nsten Augen, die sich ein Mensch vorstellen kann." Wehmütig seufzte er auf und wandte sich wieder der Brüstung zu. "Danielle liebte es, hier oben zu sitzen und zu lesen."
"Hat Danielle Selbstmord begangen?" Michelle lehnte sich n eben ihn an die Brüstung. Ihr wurde bewusst, dass sie Roger Nevins mochte, obwohl er so abfällig über Kevin gesprochen hatte.
"Man hat Ihnen also tatsächlich die ganze furchtbare G eschichte verschwiegen", stellte der junge Mann kopfschüttelnd fest. "Aber anders hätte ich es auch nicht erwartet", fügte er hinzu und blickte zum Herrenhaus hinüber. "Nein, Danielle Stone dachte nicht daran, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte keinen Grund dazu. Sie ..." Er schüttelte den Kopf. "Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat Danielle das Gleichgewicht verloren oder sie wurde hinuntergestoßen."
"Hinuntergestoßen", wiederholte Michelle entsetzt. "Aber wer hätte denn etwas so Furchtbares tun können?" Ihr ganzer Körper wurde von einem Schauer ergriffen. Sie
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