Tod den Unsterblichen
erlaubte er sich, unverzüglich andere Aspekte dessen zu erforschen, was früher Psionik genannt wurde.
Vorahnung schloß er aus logischen Gründen aus; über Hellsehen dachte er mehrere Monate lang nach, ehe er entschied, daß es, wie die Vermutung, daß fliegende Untertassen von außerirdischer Herkunft seien, zu wenig Möglichkeiten für eine experimentelle Verifikation bot, um ein reizvolles Studium zu sein. Hexerei schaltete er aus, weil sie nicht unbedingt Telepathie oder Hellsehen miteinbezog. Nicht die Fälle, bei denen das Opfer wußte, daß es behext war, stellten ein Problem dar; die meisten davon ließen sich einfacher Suggestion zuschreiben; ein Mann, der die Wachspuppe mit den darin steckenden Nadeln erblickte oder dem der Zauberer sagte, daß seine Fußnägel geröstet werden werden sollten, vermag mühelos zu erkranken und vor Angst zu sterben. Wenn aber das Opfer nicht unmittelbar etwas von seiner Behexung erfuhr, konnte es nur durch Telepathie oder Hellsehen etwas davon erfahren; und die hatte Carl eliminiert.
Die traditionelle Liste der paranormalen Kräfte umfaßte nur noch zwei andere Phänomene: Lichterscheinungen und Telekinese.
Carl entschied sich, das erstere nur als Teil des zweiten zu betrachten. Die Beschleunigung der Brownschen Molekularbewegung (d.h. durch Erhitzen) bis zum Aufleuchten unterschied sich im Wesen nicht von der gewaltigen Manipulation von Molekülgruppen (d.h. sich bewegenden stofflichen Gegenständen).
Bei seinen ersten telekinetischen Experimenten verlor er viel Zeit mit dem Versuch, Materieteilchen, erst Papier, dann schwankende Nadeln, hängende Fäden, schließlich Staubkörner auf einer Mikrowaage in Bewegung zu setzen. Ohne Resultat. Mit Unterstützung aus der Klassischen Physik begann Carl eine Testserie mit Filmen. Der Film, versicherten die hinzugezogenen Physiker ihm, war das Medium, in dem die geringste physikalische Kraft die größte meßbare Wirkung erzielte. Ein Photon, ein freies Elektron, fast jedes energiegeladene Teilchen konnte die labilen Moleküle in der Filmemulsion in Bewegung setzen.
Carl arbeitete mit immer stärker beschleunigten Emulsionen und lernte Tricks, um den Film noch empfindlicher zu machen – Spezialentwickler, genaue Temperaturkontrolle, Vorbelichtung des Films, um einen Teil der Energie »aufzusaugen«, die für das Entstehen eines Bildes notwendig war. Stundenlang saß er vor jedem neuen Filmstreifen und versuchte, mit seinem Verstand Kreise, Kreuze und Sterne auf die Emulsion zu malen, stellte sich die Moleküle vor und richtete seinen Willen auf den Übergang. Er schnitt Schablonen aus und hielt sie über die verpackten Filme, denn er hielt es für möglich, daß die psionische »Strahlung« sich nur als Punktquelle zeigte. Er verzeichnete einen kurzfristigen und illusorischen Erfolg: Als er eine besonders hochempfindliche Platte, die er die Nacht über unter sein Kissen gesteckt hatte, am nächsten Morgen entwickelte, erschien darauf ein gespenstisches, schwankendes X. Master Florian von der Photochemie nahm ihm die Illusion. Carl war es nur gelungen, die Platte so empfindlich zu machen, daß sie auf die geringe Infrarot-Strahlung seiner eigenen Körperwärme reagierte.
Master Carls Plan für diesen Abend umfaßte die Vorbelichtung eines besonders hergestellten Röntgenfilms durch den Kontakt mit einem Bogen Leuchtpapier; die schwachen Gamma-Strahlen des Papiers brauchten Stunden, um auf die Emulsion einzuwirken, aber diese Stunden mußten genau eingehalten werden.
Um diese Zeitspanne auszufüllen, hatte Carl noch eine angenehme Aufgabe vor sich. Er schickte einen Studentenkurier zu seinem Büro und ließ sich die unvollendete Abhandlung bringen, die er aus Cornuts Zimmer entwendet hatte. Die Überschrift lautete:
Versuch eines Ausgleichs
bestimmter offenkundiger Anomalien
in Wolgrens Dispersionsgesetz
Carl rückte einen Lehnstuhl an seinen Schreibtisch und begann mit Freude zu lesen.
Das Wolgrensche Gesetz, das die Verteilung variierender Merkmale in Zufallskollektiven betraf, war eine rein mathematische Regel. Es befaßte sich nicht mit materiellen Objekten; es befaßte sich nicht einmal mit numerischen Größen als solchen. Dennoch wurde das Wolgrensche Gesetz bei allen den Menschen bekannten Prüfungsmethoden angewandt, von der Aufstellung von Parametern zur Auslese minderwertiger Sardinenbüchsen angefangen bis zur Voraussage von Wahlergebnissen. Es war ein allgemeines Prinzip, aber die einzelnen Formeln,
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