Tod den Unsterblichen
für das interessierte, was Cornut sagte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt seinem Geschenk. Sobald er es nicht mehr ungehörig fand, entschuldigte er sich und trug es in sein Zimmer.
Roger war sich bewußt, daß es sehr alt war und von weit her kam; aber das hätte auch etwas aus der vergangenen Woche, aus der Stadt gerade unterhalb des Horizonts sein können; er besaß so gut wie kein Gedächtnis. Was Roger hauptsächlich an der Fahne beschäftigte, war, daß sie eine hübsche Farbe hatte.
Er hängte sie mit magnetischen Klammern an die Wand seines Zimmers, trat nachdenklich zurück, entfernte die Klammern und befestigte sie näher bei seinem Bett. Da stand er und betrachtete sie, weil es ihn irgendwie befriedigte, dort zu stehen und sie zu betrachten.
Draußen war heller Mondschein, aber eine steife Brise fegte von Portugal her über das weite Meer. Der Wellengang war hoch, und das Druckluftgehämmer und das Klappern der sich öffnenden und schließenden Ventile hallte durch den Texas, wobei ein Lärm den anderen noch verstärkte. Im anderen Zimmer fiel jedem das Reden schwer. (Cornut fühlte sich immer unbehaglicher.) Aber Roger störte es nicht. Seit dem Tage, an dem sein eigener Schädel eine Ecke seines Gehirns zermalmt hatte, störte eigentlich Roger nichts mehr.
Aber die Fahne gefiel ihm. Nachdem er sie zehn Minuten angestarrt hatte, nahm er die Magnete, mit denen sie befestigt war, wieder ab, faltete sie und legte sie unter sein Kissen. Vor Freude lächelnd ging er ins andere Zimmer zurück, um dem neuen Mann seiner Schwester gute Nacht zu sagen.
10.
Master Carl knipste das Bitte-nicht-stören-Zeichen an seiner Tür an und öffnete die Rollwand, die seine kleine Dunkelkammer vor den flüchtigen Blicken der Studentenhaushälterinnen verbarg. Er schämte sich nicht des Hobbys, das ihn in der Dunkelkammer arbeiten ließ; es ging sie nur nichts an. Carl schämte sich keiner der Dinge, die er tat. Sein Zimmer bewies das; es trug den Stempel all seiner Interessengebiete. Auf drei Brettern standen halbgelöste und vergessene Schachprobleme, deren Figuren ein Dutzend Studentenzimmermädchengenerationen hochgehoben, abgestaubt und wieder hingestellt hatten. An den creme- und lilafarbenen Wänden hingen eingerahmte Reproduktionen minoischer Szenen und Inschriften, die zehnjährigen Überreste seiner statistischen Untersuchung der Grammatik in Liniatur B. Ein Karton, der einst zwei Dutzend Sätze von Rhine-Karten enthalten hatte (und immer noch fünf ungeöffnete enthielt), zeugte von den zwei Jahren, die er damit verbracht hatte, um zu seiner eigenen Genugtuung ein für allemal zu demonstrieren, daß Telepathie unmöglich war.
Der Beweis beruhte auf einer Analogie, aber Master Carl hatte sich selbst vergewissert, daß die Analogie gültig war. Wenn, nahm er an, telepathische Kommunikation sich unter die allgemeinen Gleichungen der Einheitlichen Feldtheorie einreihen ließ, mußte sie unter eine der zwei möglichen Kategorien darin fallen. Sie konnte modulierbar sein, wie das elektromagnetische Spektrum; oder sie konnte rein quantitativ sein, wie die Materiewellenfelder. Er schloß die zweite Möglichkeit sofort aus, denn sie implizierte, daß jeder Gedanke von jeder Person innerhalb der Reichweite empfangen würde, und die Beobachtung verneinte er rundweg.
Also mußte die Telepathie, wenn es sie überhaupt gab, modulationsfähig sein. Daraufhin wandte Carl seine Analogie an. Kristalle mit identischer Struktur ertönen bei derselben Frequenz. Nun gibt es Menschen mit identischer Struktur, die sogenannten eineiigen Zwillinge. Zwei Jahre lang hatte Master Carl den größten Teil seiner Freizeit damit verbracht, Testpaare eineiiger Zwillinge aufzustöbern und zu überreden. Es dauerte zwei Jahre und nicht mehr, denn so lange brauchte er, um dreihundertsechsundzwanzig Paare zu finden; und dreihundertsechsundzwanzig war die Größe, die in diesem mikro-physikalischen System der Minimalforderung für eine Chiralitätstransformation genügte und eine statistische Aussage ermöglichte. Als die dreihundertsechsundzwanzig Zwillingspaare es nicht geschafft hatten, wesentlich häufiger gleichartige Kartensymbole zu ziehen, als es nach der Wahrscheinlichkeitstheorie zu erwarten war, hatte Carl das Experiment sofort beendet.
Nach der zweijährigen Arbeit war Carl weder böse noch besonders hoffnungsvoll. Es kam ihm nicht in den Sinn, mit einem dreihundertsiebenundzwanzigsten Paar weiterzumachen. Allerdings
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