Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
die Heuschrecken, doch dann hörte er trotz dieser Hintergrundgeräusche,
dass sie mit irgendjemandem sprach, der mit ihr im selben Raum war. Es war eine Männerstimme, und das Ganze klang wie eine
erregte Diskussion.
Dann sagte Webley: »Wir reden darüber, wenn Sie zurück sind, Fletcher.«
Im Archiv bekam Sal Moresby allmählich Kopfschmerzen. Sie wusste, dass Fletchers Überlegung ganz einfach war. Wenn der alte
Niva-Traktor in Charters Schuppen vor etwa fünfundzwanzig Jahren in Cambridgeshire eingetroffen war, musstedamals etwas vorgefallen sein, was ihn für Iwan bedeutsam machte. Vielleicht etwas so Gravierendes, dass es eine Spur in den
Polizeiakten hinterlassen hatte.
In der Hoffnung, irgendetwas Passendes zu finden, ging Sal Jahr für Jahr alle alten Verbrechen im Umkreis von Thinbeach durch,
blieb aber erfolglos. Sie ging immer weiter zurück, und schließlich war die Datenbank des Computers erschöpft und sie musste
in den Raum mit dem alten Mikrofilm-Lesegerät gehen und die Microfiches von Hand einlegen. Es gab zahlreiche kleinere Vergehen
und einige wenige Verbrechen, die aber nicht relevant schienen: Ein Nachbar hatte nach einem Nachbarschaftszwist einen Brand
gelegt, und eine Frau war aufgrund eines Inzestvorfalls von ihrem Ehemann erwürgt worden.
Dann erhielt sie Fletchers Anruf mit der Information, dass es um das Jahr 1979 ging.
»Da war ich auch so schon fast angelangt, Fletcher.«
Sie schob die entsprechende Stelle auf der alten Datenfolie unter das Licht des Lesegeräts. Doch 1979 war enttäuschend wenig
passiert – überhaupt kein Mord, nichts, was auf ein Ereignis hindeutete, das den Russen bis heute beschäftigen könnte. Doch
als sie dann noch weiter zurückging, bis ins Jahr 1978, erbrachte das ein verblüffendes Ergebnis.
Auf dem Bildschirm war eine Verbrechenswelle in Thinbeach und Umgebung verzeichnet: eine Flut von Einbrüchen und Raubüberfällen,
die – wie man den Berichten über die letzten Endes nicht überführten Verdächtigen entnehmen konnte – wohl überwiegend von
Jugendlichen aus Wittris begangen worden waren.
Es gab anscheinend Dinge, die sich niemals änderten, dachte Sal und stellte sich vor, dass damals die Eltern jener Wittris-Kids
zugange gewesen waren, die heute Peter Charter das Leben zur Hölle machten. Ein paar Namen tauchten immer wieder auf: Dieselben
Jugendlichen waren mehrmalsfestgenommen und auch einige Male angeklagt worden, in der Regel vergebens. Offensichtlich hatte eine Gang aus Wittris in
den wohlhabenderen Fen-Gemeinden des Umlandes gewütet.
Die Verbrechenswelle schien gegen Ende 1978 noch einmal anzuschwellen und legte sich dann plötzlich, denn 1979 war kaum noch
etwas passiert.
Sie hörte dort auf und ging ein paar Einträge zurück.
Im Januar 1979 gab es einen gelöschten Eintrag, der mit dem Hinweis
Siehe H47
überschrieben war.
Das sagte ihr nichts. Sie nahm sich die uralten Akten vor, die im Microfiche-Raum auf einem Regal standen, und blätterte sie
durch. Die Unterlagen rochen muffig und waren mit Ordnerbündelungsbügeln zusammengefasst. Im dritten dieser Packen fand sie
eine Liste von Codes, mit denen Verschlusssachen klassifiziert waren. Die Liste war mit einer Typenrad-Schreibmaschine der
siebziger Jahre getippt, und die Codes waren schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Gebrauch. Sie fand H47. Was auch immer damals, am zehnten Januar 1979, vorgefallen war, es war als geheim eingestuft worden und der Vorgang befand
sich im Innenministerium.
Sal dachte eine Weile nach und klappte den wuchtigen Aktenpacken zu. Dann ging sie an ihren Schreibtisch und rief einen Bekannten
bei der
Cambridge Evening News
an, der ihr jedes Jahr zum Valentinstag eine Karte schickte.
»Derek? Hier ist Sal Moresby. Ja, ich freu mich auch, dich zu hören. Derek, könntest du mir einen Gefallen tun? Kannst du
bei euch im Archiv was für mich nachgucken? Die
Evening News
vom zehnten Januar 1979. Alles, was in Thinbeach und Umgebung passiert ist.«
Derek hätte gern einen Stein bei ihr im Brett gehabt, mehr nicht. Sie nahm sich vor, ihm zu Weihnachten eine Karte zu schicken.
Als er zurückrief, hörte sie zu und bedankte sich dann. Sie trat ans Fenster und blickte auf die Bäume desParker’s Piece hinaus. Sie nahm einen Becher Wasser aus dem Trinkwasserspender und presste ihn ans Gesicht.
Wieder läutete das Telefon.
Judith hörte, dass jemand an die Glastür klopfte. Ein lautes,
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