Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
allerdings wissen, was hier los ist. Was hatte er Ihnen zu
sagen, Judith?«
Judith schloss einen Moment lang die Augen. Sie lehnte sich zurück, legte die Hände auf die Knie und erzählte Iwans Geschichte.
Sie begann genau wie er mit dem Pioniermädchen in der Halle der Sowjetischen Errungenschaften. Als Nächstes erzählte sie von
der Wohnung in Stawropol und wie Iwan seinem Vater am Küchentisch zugehört hatte, während der Schnee hinter den qualmenden
Schloten der Niva-Werke auf die Osteuropäische Ebene fiel.
Während sie sprach, beobachtete Fletcher durch die riesigenGlasfenster, wie die Wolken sich noch tiefer rot färbten. Er dachte an Iwan, den Mann mit der Narbe unterm Kinn, der als Kind
seinen Vater angebetet hatte. Einen Moment lang dachte er auch an die Electric Mile.
Judith ließ die Geschichte in der Küche in Stawropol enden, wo ein kommunistischer Parteifunktionär sich auf die roten Lippen
biss und auf seine lederne Aktentasche blickte.
In den wenigen Sekunden, in denen der Funktionär zögerte, verstand Iwan plötzlich. Er konnte wieder hören und vernahm den
Atem seiner Mutter. Dann griff der Parteifunktionär zum letzten Mal in seine Tasche.
»Und außerdem noch das hier« , sagte er. »Das war auch bei seinen Sachen.«
Er nahm den Gegenstand aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. Er lag dort zwischen all dem, was seinem Vater gehört hatte.
Iwan hörte, wie der Küchenstuhl über den Boden schrappte, als seine Mutter aufsprang. Sie zeigte auf das Ding und sagte: »Nehmen
Sie das weg.«
Der Parteifunktionär blickte verwirrt drein. Iwans Mutter wurde lauter und schrie schließlich gellend, er solle es wegnehmen.
Die Nachbarin ließ Iwans Schultern los und versuchte, seine Mutter in den Arm zu nehmen, doch die schrie weiter mit weit aufgerissenen
Augen, während der Speichel aus ihrem Mund sprühte.
Iwan nahm das Ding vom Tisch. Es spürte, dass etwas Böses daran haftete, an diesem Gegenstand, der aus irgendeinem Grund bei
der Leiche seines Vaters gelegen hatte. Er rannte damit aus der Wohnung. Die Türen anderer Wohnungen öffneten sich, als er
das Treppenhaus hinunterstürmte. Dann war er draußen und schoss über den Schnee, vorbei an dem Sputnik-Klettergerüst und dem
Arbeiterdenkmal, und der Atem stach ihm hart und kalt in der Brust. Er rannte auf die Eisfläche des Staubeckens hinaus. Unter
der Schneedecke
war das Eis hart wie Beton. Er überquerte es rutschend und stolpernd und kletterte auf der anderen Seite die Uferböschung
hinauf.
Er blickte über die Gleisanlagen und das Niva-Werk und atmete den Rauch der Fabrikschlote ein. Keuchend stand er da und betrachtete
den Gegenstand, den der Parteifunktionär auf den Tisch gelegt hatte.
Und er begann darüber nachzudenken, was er einmal tun würde.
In dem Haus am Schilfufer des Sees herrschte Schweigen. Denton lehnte noch immer an der Wand, den Blick auf seine Tochter
geheftet. Judith blickte auf.
»Dort endete seine Geschichte«, sagte sie.
»Was war es denn?«, fragte Fletcher. »Was war dieser letzte Gegenstand in der Tasche?«
»Das hat er mir nicht gesagt. Er nannte ihn nur
das Ding.«
»Und wie ist sein Vater gestorben?«
»Das habe ich ihn natürlich auch gefragt. Aber mir scheint, er weiß es selbst nicht.« Dann sah Judith an Fletcher vorbei.
»Hallo, Sal.«
Sal war über die Rampe eingetreten und hatte das Ende der Geschichte mit angehört. Sie wirkte besorgt.
Fletcher wollte zur Charter-Farm, bevor das letzte Tageslicht erlosch und Peter Charter ein Opfer seiner Ängste wurde. Als
sie aufbrachen, stand Denton noch immer reglos an der Wand und betrachtete seine Tochter, die wieder die Augen schloss und
sich im Sessel zurücklehnte. Im Abendlicht glühten die Glaswände wie ein Hochofen.
Sie nahmen Sals Wagen. Libellen zuckten durchs Dämmerlicht und Sal bog ohne jede Rücksicht auf die scharfe Kurve auf die Landstraße
ein. Fletcher klammerte sich fest, dann legte der Wagen sich wieder gerade und sie fuhren inRichtung Charter-Farm. Fletcher dachte über den letzten Gegenstand nach, der auf Iwans Küchentisch gelegt worden war.
»Du sagtest vorhin, du hättest eine Verbindung gefunden, Sal«, begann Fletcher. »Was denn für eine? Dass Iwans Vater als Ingenieur
bei Niva gearbeitet hat und hier auf Dienstreise war?«
»Nein, das wusste ich noch gar nicht. Aber ich weiß vielleicht, wie er gestorben ist und wo.«
»Wie denn?«
»Also . . .«
Sal
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