Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
Miniaturlandschaft
war darauf erbaut, mit Feldern, Hügeln, Zäunen und einigen sorgfältig gefertigten Gebäuden. Hunderte winziger Figuren bevölkerten
diese Landschaft – Bleisoldaten, wie Fletcher erkannte, keiner größer als sein Daumennagel, und dennoch ganz exakt bemalt und mit Tornistern
und Musketen ausgerüstet. Es waren Kavallerieschwadronen, die gegen winzige Kanonen vorsprengten. In dieser Szene musste unglaublich
viel Arbeit stecken.
Alain richtete einen Lanzenreiter exakter aus.
»Die Schlacht von Salamanca, 1812«, erklärte er. »Der Wendepunkt gegen Ende der napoleonischen Kriege auf der iberischen Halbinsel.
Ein Junggeselle meines Alters muss sich ja irgendwie abends die Zeit vertreiben. Und ich mag diese napoleonischen Uniformen.
Ich freue mich, wenn Sie mich besuchen, Inspector. Ich helfe Ihnen gern, das wissen Sie.«
»Ja.« Fletcher ließ den Blick über die Tischplatte wandern und betrachtete die glitzernden Säbel, mit denen die blau gekleideten
Truppen die Soldaten in den roten Uniformen zurückdrängten und gegen einen Hinterhalt trieben. »Vermutlich wissen Sie über
alles Bescheid, was in Thinbeach vor sich geht, Alain, habe ich recht?«
»Ich denke ja.«
»Aber als ich Sie heute bei Breakman fragte, ob Ihnen der Name Niva etwas sagt, haben Sie das geleugnet.«
Alain schloss einen Moment lang die Augen und nickte. »Ah ja. Sie wissen also Bescheid.«
»Über den 10. Januar 1979? Ja – und Sie offensichtlich auch. Erzählen Sie mir jetzt, was Sie über den russischen Ingenieur wissen. Und dann
erklären Sie mir bitte, warum Sie mir das bisher verschwiegen haben.«
Alain holte tief Atem und hockte sich hin, so dass er auf Augenhöhe mit der Tischplatte war. Er spähte über denTisch, die zurückweichenden roten Soldaten im Blick, und schloss mal das rechte, mal das linke Auge, um sich zu vergewissern,
dass die Gefechtslinie der Schützen gerade ausgerichtet war.
»Nun ja, all das liegt jetzt eine Generation zurück«, sagte er. »Aber ich erinnere mich an diesen Morgen, als wäre es gestern
geschehen.« Er stand auf, reckte den Rücken und spannte und entspannte die Finger, bevor er weiterredete. »Es war kalt«, fuhr
er dann fort. »Eiskalt. Die meisten Leute blieben schön drinnen im Warmen, und so bekamen nur die wenigsten mit, dass flussabwärts
eine Leiche am Ufer gefunden wurde. Die Polizei brauchte nicht lange, um sie mit einem Leihwagen in Verbindung zu bringen,
der verlassen auf der Landstraße stand. In dem Auto muss man wohl russische Papiere gefunden haben, denn noch am selben Tag
bekam ich Besuch von einem hochrangigen Polizeioffizier der Cambridgeshire Constabulary –
sehr
hochrangig. Ich denke, Sie können sich denken, welchen Rang er bekleidete.«
»Was wollte er von Ihnen?«
Alain stand auf und zog den über die Schultern gelegten Kaschmirpullover zurecht. »Er hat mir ein Versprechen abgenommen.
Als ein Nachfahre Chretien de Minchins habe ich ihm mein feierliches Ehrenwort gegeben, dass niemand hier im Dorf jemals mit
irgendjemandem über diese Leiche sprechen wird. Die wenigen unter uns, die überhaupt etwas von dem Toten wussten, haben dieses
Versprechen gehalten. Als Sie mich heute danach fragten, gebot mir die Ehre zu schweigen. Das verstehen Sie doch, oder?«
Das passte zweifellos zu dem offiziellen Stillschweigen, das über den Tod gewahrt worden war, aber Fletcher sagte dennoch:
»Moment. Ihre Verschwiegenheit in Ehren, aber mir scheint, dass wir da gerade etwas ausgelassen haben. Ich will vor allem
wissen, was diesem Mann zugestoßen ist. Wie ist er ums Leben gekommen?«
Alain richtete den Blick auf Fletcher, und in seinen Augen lag echte Sorge.
»Müssen Sie das denn wirklich wissen? Spielt das nach all diesen Jahren überhaupt noch eine Rolle?«
»Es wird sogar immer wichtiger. Es ist Zeit, reinen Tisch zu machen.«
Alain nickte und warf noch einen Blick auf die Schlacht von Salamanca. »Könnten wir vielleicht auf die
terrasse
gehen, Inspector? Irgendwie kommt es mir nicht richtig vor, bei dieser Schlachtenszene über dieses Thema zu reden.«
Gerade ging der Mond auf, und im Westen überzog sich der Himmel mit Wolken. Alain stand neben Fletcher auf der Terrasse und
blickte auf das dunkle Oval der Wasserfläche hinaus. Irgendwo ertönte ein leises Platschen.
»Verstehen Sie«, sagte Alain zum Wasser gewandt, »es war ein furchtbares Missverständnis.« Einer der Hunde tapste zu ihm hinüber
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