Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
Flinte da auf irgendjemanden anzulegen. Sonst kriegen Sie gewaltigen Ärger.«
Charter lachte in sich hinein. »Aber ich lese Zeitung. Ich darf Einbrecher erschießen. Es gibt ein neues Gesetz.«
»Das haben Sie falsch verstanden. Sie dürfen das Gesetz nicht in die eigene Hand nehmen.«
Charter blickte auf seine Hände hinunter, die wie reineArbeitsgeräte wirkten, knochig und dürr. Fletcher vermutete, dass er damit schon seit Jahren keinen Menschen mehr berührt
hatte. Er sagte: »Wohin haben Sie die Leute damals gefahren, Mr Charter? Die Mitglieder von
The Wake
?«
Charter schloss die Augen. »Zu Dorffesten und Veranstaltungen. Sonst nirgendwohin. Zu Festen, Veranstaltungen und der verdammten
Thinbeach-Hochzeit.«
Bei dieser Version blieb er eisern. Auf dem Rückweg zum Thinbeach Fen hatten Fletcher und Sal einen guten Blick auf die tiefer
gelegene Ebene im Westen. Dort gingen in den Wittris-Zähnen die ersten Lichter an.
Sie fuhren nach Deep House zurück, um Fletchers Wagen abzuholen. Das Haus wirkte leer, die Tür war verschlossen und von drinnen
drang nur ein matter Lichtschimmer heraus. Sal schlug vor, zur Polizeiwache zurückzukehren, um den Sozialdienst um Unterstützung
für Charter zu bitten. Fletcher war einverstanden. Für Charter waren die eigenen Ängste viel gefährlicher als irgendwelche
Einbrecher aus Wittris, und weder Fletcher noch Sal wollten ihn noch tiefer in seinen psychischen Sumpf versinken sehen, auch
wenn er Informationen zurückzuhalten schien.
»Ich suche jetzt Alain de Minching auf«, sagte Fletcher. »Er ist der wichtigste Mann in Thinbeach. Ich werde ihn fragen, was
er über den Tod des Russen weiß. Und wahrscheinlich sollte er vorsichtshalber auch die Hochzeit von Thinbeach absagen.«
»Vorsichtshalber? Aus Vorsicht wovor?«
»Vor Iwan.«
Iwan hielt immer, was er versprach. Im Moment wartete er wie angekündigt am Flussufer bei der verlassenen amerikanischen Raketenbasis.
Er lag auf der Seite, und vom grasbewachsenen Flussuferaus konnte er gerade noch das riesige Trümmerfeld erkennen, das sich unter dem Schleier der Pusteblumen ausbreitete. Die Kuppeln
der alten Bunker ragten aus dieser Fläche heraus und zeichneten sich im letzten Tageslicht vor dem Horizont ab. Der Fluss
war praktisch schwarz, und das Wasser leckte über eine flache Uferbank, die es aus der Böschung herausgegraben hatte: einige
Meter Schlick und Schlamm, metallisch glänzend von den Mineralien, die aus dem Boden gewaschen worden waren. Iwan hatte einen
langen Grashalm zwischen den Lippen. So hatte er das im Film gesehen: Die Briten lagen im Sommer draußen auf einer Wiese und
kauten auf Grashalmen.
Er blickte wieder auf.
Sie tauchte vor dem Horizont auf und ging am Flussufer entlang, das Haar ein wenig vom Wind verweht, der jetzt auch das Wasser
kräuselte. Er konnte sehen, dass sie fröstelte.
Er stand auf, und sie sah ihn und kam direkt auf ihn zu. Obgleich er ihr Gesicht kaum erkennen konnte, spürte er die Energie,
die von ihr ausstrahlte, wie sie da am Rand des dunklen Wassers stand.
»Und, wie schmeckt das Gras?«, fragte sie.
»Wie alter Honig.«
»Wie finden Sie England?«
»Komisches Land«, gab er zurück. »Alle Leute wohnen in Einzelhäusern.«
Plötzlich zuckte er zusammen. Irgendetwas hatte ihn berührt, und er merkte, dass es Judith war, die mit den Fingern über seine
Narbe strich.
»Wie ist das passiert?«, fragte sie.
»Du stellst sehr viele Fragen, Judith.«
Er setzte sich wieder auf die Uferböschung und spürte, dass sie sich neben ihn setzte. Sie roch sauber. Irgendetwas summte
um ihre Köpfe herum.
»Weiß dein Vater, dass du hier bist?«, fragte er.
»Ich habe es ihm nicht gesagt. Wie ist es passiert?«
»Es war in Tschetschenien, mein Offizier hat versucht, mich umzubringen.«
»Warum?«
Iwan pflückte den nächsten Grashalm.
»Er schickte uns hinaus gegen eine Stellung der Partisanen. Die Ersten von uns wurden niedergemäht und nach einer Weile mussten
die Männer über Leichen rennen, aber er schickte immer mehr von uns los. Der Älteste war zwanzig, der Jüngste, glaube ich,
achtzehn. Als ich dem Offizier mein Gewehr ans Gesicht hielt, hat er sich anders besonnen. Beim Rückzug schlich er sich mit
einem Bajonett hinter mich und versuchte, mir die Kehle durchzuschneiden. Berlitz musste ihm die Beine brechen, um ihn von
mir runterzukriegen. Wir landeten im Militärgefängnis.«
Er streckte die Hand aus und
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