Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
Strohpuppen
bedeuten.«
Iwan sah ihn aufmerksam an, und Fletcher dachte an alles, was diese mandelförmigen Augen schon gesehen hatten – Leichen, die
Wände der Strafzelle, Iwans eigene Opfer bei ihren letzten Atemzügen.
»Und der dritte Grund, was ist der dritte Grund?«, fuhr Iwan fort. »Ich glaube, da ist noch ein Grund in Ihrem eigenen Inneren,
denn ohne den wären Sie niemals so weit gekommen.« Er steckte die Strohpuppe in seine Jacketttasche, knöpfte diese vorsichtig
zu und strich den Stoff glatt. »Ich bin ein moralischer Mensch, Polizist. Manchmal denke ich sogar, ich bin eine Art Heiliger.«
»Falls Ihr Vater Opfer eines Verbrechens wurde, werde ich das herausfinden.«
»Sie sind einverstanden? Danke.«
»Aber wir befinden uns immer noch in England, Iwan, selbst hier in dieser Einsamkeit. Ich werde herausfinden, was Ihrem Vater
zugestoßen ist, und dann sorge ich dafür, dass Sie abgeschoben werden. Lassen Sie unterdessen die Finger von Judith Denton.«
»Judith.« Iwan rieb sich wieder das Kinn und lächelte. »Sie erinnert mich an eine sehr berühmte Frau in Tschetschenien. Haben
Sie jemals vom Engel von Izny gehört?«
»Was ist Izny?«
»Ein Gebiet, in dem sehr viele unserer Männer gefallen sind. Der Engel war eine wunderschöne Frau, eine Kämpferin der Partisanen.
Sie tauchte immer ganz unerwartet auf, mitten in einer Menschenmenge oder in der Krone eines Baums zum Beispiel, tötete einen
von unseren Soldaten und verschwand. Keiner bekam je wirklich ihr Gesicht zu sehen. Sie wurde fast eine Legende. Manche von
unseren Jungs ließen sich Tätowierungen machen, mit der Inschrift
Verschone mich, Engel.
Dann befand sich meine Einheit eines Tages am Rande eines Maisfeldes. Ich sah, wie etwas sich im Mais auf meinen Kampfnachbarn
zubewegte. Plötzlich trat sie aus dem Mais heraus, eine wunderschöne Frau in Schwarz, in einem dieser langen Kleider, die
die Frauen dort tragen, und das Gesicht war wirklich wie von einem Engel. Mein Kamerad konnte sich nicht rühren, er kniete
einfach da und blickte zu ihr auf. Er war praktisch noch ein Kind, direkt nach der Schule eingezogen. Er wusste, dass der
Engel ihn gefunden hatte. Sie schoss ihm mitten ins Gesicht. So haben wir sie erwischt.«
»Was ist mit ihr geschehen?
»Die Jungs haben ihr ein anständiges Begräbnis gegeben. Haben ihre Einzelteile hübsch ordentlich eingesammelt. Es war ein
gutes Begräbnis. Und Judith ist genauso schön wie derEngel. Sie ist wundervoll, finden Sie nicht?« Iwan lächelte. »Sie sind geschickt, Sie haben mich dazu gebracht, zu viel zu
reden. Das ist eine Verhörtechnik, nicht wahr? Ihnen bleibt nur noch ein einziger Tag. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht. Ich
weiß, dass
The Wake
beteiligt war, aber ich glaube, dass noch mehr an der Sache dran ist. Das waren nicht nur die drei Männer, von denen wir bereits
wissen. Sagen Sie mir, wer sonst noch beteiligt war, was sie getan haben und warum sie die Strohpuppe auf die Leiche meines
Vaters gelegt haben. Sonst zahlt ganz Thinbeach den Preis, jeder einzelne Einwohner.«
Iwan wandte sich zum Gehen. Fletcher sah ihm nach, wie er von der Silokuppel herunterstieg und durch das verblühte Löwenzahnfeld
davonging, wobei er eine Spur fliegender Samenschirmchen hinter sich herzog, bis er in der Dunkelheit verschwand.
Fletcher wartete so lange, bis er Iwan auch dann nicht mehr hätte einholen können, wenn er seine Meinung geändert und es gewollt
hätte. Das Risiko war gering, denn er änderte seine Meinung fast nie.
Im Flugzeug nach Lissabon saß Sal Moresby neben einem Mann, der nach Kouros duftete und Ferienwohnrechte in Luxus-Wohnanlagen
verkaufte. »Ich kann Ihnen ein paar Objekte zeigen. Ohne jeden Kaufzwang. Wir sind Profis.«
Sie schloss die Augen, ließ das Brummen des Flugzeugs, die Stimmen der Passagiere und das gelegentliche Weinen eines Kindes
einfach an sich vorbeistrudeln. Ihre Verärgerung über Tony Ollands idiotisches Gebrabbel verging auf Höhe des Ärmelkanals.
Irgendwo über dem Golf von Biskaya nickte sie ein paar Minuten ein und begriff im Halbschlaf etwas, das ihrem Bewusstsein
entgangen war.
Als sie aufwachte, war es wieder weg. Sie bestellte eine Bloody Mary und sah zu, wie die portugiesische Küste imdunklen Meer unter dem Flugzeug wie ein anschwellender Bluterguss immer größer wurde. Der Ferienwohnrechteverkäufer wollte
ihr seine Karte geben. »Sehen Sie nicht, dass ich nachdenke«, fuhr sie
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