Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
ihn an.
Spätnachts stand sie an der Rezeption der Leihwagenfirma. Sie fragte den Angestellten, ob er ein Hotel empfehlen könne.
»Eine Frau wie Sie braucht ein schönes Zimmer«, erwiderte der.
»Ein ruhiges Zimmer reicht mir völlig.«
Fletcher hielt auf dem Rückweg an der Electric Mile. Als er ins Haus ging, hockte Cathleen im Wohnzimmer mit angezogenen Beinen
auf dem Sofa und sah ihn mit geweiteten Augen über ihre Knie hinweg an. Auf dem Hof hörte man Luke, der mit einem Basketball
trainierte, doch gleich darauf fuhr ein Zug vorbei und übertönte alles.
»Macht Luke sich Sorgen?«, fragte er.
»Er vertraut darauf, dass du diese Männer von uns fernhältst.« Sie schloss die Augen. »Wenn er es herausfindet, Tom. Ich weiß
nicht, was dann mit ihm passiert. Das bringt ihn um.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass er es nicht herausfinden wird.«
»Und dich auch, Tom. Dich bringt es auch um, oder?«
Es war eine schwüle Nacht. Die Leute huschten wie Schatten durch die Straßen der Altstadt, die Collegegebäude lagen verlassen
da. Fletcher fuhr zu seinem Parkplatz bei All Saints’, hielt dann aber vor der Kette und sah gedankenverloren auf das herabbaumelnde
Vorhängeschloss. Er dachte über Iwan und dessen Vater nach. Wenn Iwan die Chance bekäme, noch einmal mit seinem Vater zu sprechen,
was würde er tun, wie weit würde er dafür gehen?
Er ließ den Motor wieder an und fuhr über die Sidney Street davon.
Durch das offene Wagenfenster atmete er die Luft von Cambridge ein. Es roch nach altem Gemäuer, Parfüm, Essen und Kanal, ein
brackiger Geruch, den der Fluss unter der Magdalene Bridge verströmte. Als er auf der Madingley Road nach Westen fuhr, wichen
diese Gerüche dem Duft von Gras. Er überquerte die M11 und nahm die Scheinwerfer der Autos unten auf der Autobahn nur als
rasch vorbeihuschende Streifen wahr.
Er bog in einen Wald ein und ließ das Dröhnen der Autobahn hinter sich zurück. Hier wuchsen überwiegend Nadelbäume, die im
Licht seiner Scheinwerfer frisch und grün wirkten, während der Boden von abgestorbenen, braunen Nadeln übersät war.
Er kam an einem Schild vorbei: Wilber Court, Seniorenzentrum.
Das Gebäude war ein rechteckiger Backsteinbau mit Blumenkästen vor den Fenstern. Hier und da sickerte Licht durch zugezogene
Vorhänge nach draußen. Fletcher parkte, blieb noch eine Weile im Auto sitzen und sah zu den Fenstern hinauf. In einigen standen
die Vorhänge ein wenig offen und man konnte die Lampen dahinter sehen. Dann ging er zur Eingangstür und drückte die Nachtglocke.
Drinnen am Empfang las eine Pflegerin in einer tschechischen Zeitung. Mit Augen wie Scherben von grünem Glas sah sie ihn an.
»Ich möchte zu Mr Fletcher.«
Sie zögerte.
»Er ist mein Vater«, sagte er.
Tom Fletcher hörte, wie die Haustür aufging, aber nicht wieder geschlossen wurde. Es war spät am Abend. Das Licht der Straßenlaternen
drang als orangegelber Schein ins dunkle Wohnzimmer, Lichtfinger von Autoscheinwerfern kamen durch die Vorhänge und strichen
über die Wände. Im Fernsehen,
wo gerade Nachrichten liefen, rollten Panzer zwischen Sanddünen hindurch.
Er ging in den Flur, von wo er den Hauseingang sehen konnte. Das Licht der Straßenlampen und kalte Luft, die nach Flusswasser
roch, strömten durch die geöffnete Haustür herein.
Tom ging hin und fand dort seinen Vater, der mit dem Rücken gegen die offene Haustür gelehnt auf der Vortreppe saß und auf
die Straße hinaussah. Sein Schlüsselbund baumelte vom Türschloss herab. Ein Auto fuhr vorbei und tauchte ihn für Sekunden
ins Licht der Scheinwerfer. Ein Schnitt im Gesicht war verschorft, während unter der Lippe frischeres Blut klebte. Er stank
nach Bier, nach der Gosse und nach allem Möglichen, wo auch immer er sich in den letzten achtundvierzig Stunden herumgetrieben
hatte. »Ich habe meinen Wintermantel verloren« , sagte er zur Straße gewandt. »Da kommt man sich doch vor wie ein Lump, oder? Den Wintermantel verlieren.«
»Sie kommen morgen« , sagte Tom.
»Wer kommt?«
»Sorgerechtsentzug.«
»Ich brauch keinen Entzug. Wer kommt?«
»Du kannst mich besuchen.«
»Wo besuchen?«
Tom Fletcher brachte seinen Vater nach oben und zog ihm die Schuhe aus. Der Betrunkene streckte sich im Licht der Straßenlaterne
auf dem Bett aus und murmelte etwas vor sich hin. Tom Fletcher betrachtete ihn minutenlang, während die Heizung knackte und
gluckerte und das Wasser in den
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