Tod einer Verrückten
noch bedrückender. Eine kleine Tüte Milch in der Tür, ein Ei und eine hauchdünne Scheibe Wurst auf einem Blechteller .
»Und oft bittet sie ihn dann um ein Ei, wie ein Kind, das ein Bonbon erbettelt. «
»Und gibt er ihr eines? «
»Ja, und er wickelt es in ein Stück Zeitungspapier ein. «
Eine der letzten Fragen des Staatsanwalts, der sich wunderte, weshalb jemand diese Frau umgebracht haben sollte, lautete: »Hatte sie Geld? «
Der Maresciallo hatte geschwiegen und seine großen Augen noch weiter aufgerissen, als wollte er sagen, der Mann solle sich doch nur mal umsehen .
»Das muß nichts heißen. «
Natürlich stimmte das. Selbst Galli, der Reporter, hatte gewitzelt: »Falls sich herausstellen sollte, daß sie ein Säckchen Diamanten auf dem Schrank hat … «
Der Gedanke veranlaßte ihn, ins Schlafzimmer zu gehen. Er durchsuchte die Wohnung nicht systematisch. Vielleicht wäre das sinnvoll gewesen, aber er wollte nicht. Er begnügte sich damit, ziellos herumzuschnüffeln. Er zog den einzigen Stuhl vor den zerkratzten Schrank und stieg vorsichtig darauf, keineswegs überzeugt, daß er sein Gewicht aushalten würde. Er knarzte ein bißchen, hielt aber. Da oben war weder ein Säckchen Diamanten noch sonst etwas, nur eine dicke Schicht Staub und Fusseln. Die verrückte Clementina war in ihrem Putzfimmel ebenso unsystematisch gewesen wie der Maresciallo beim Durchsuchen der Wohnung. Er stieg wieder herunter und machte die Schranktür auf .
»Wer zum Teufel …« Seine Verblüffung hätte nicht größer sein können, wenn er irgend etwas gefunden hätte, was sie versteckt hatte. So, wie die Dinge lagen, war sein erster Gedanke, daß jemand Clementinas Kleidung entfernt hatte, aber wer um Himmels willen konnte das gewesen sein? Der Schrank war leer bis auf ein paar Drahtkleiderbügel und ein in Plastik eingeschlagenes Bündel, das auf dem Boden lag. Als er es aufmachte, kamen zwei alte Wollkleider zum Vorschein, die nach Mottenkugeln stanken. Er legte das Bündel wieder an seinen Platz und richtete sich auf, um sich weiter umzusehen. An der Wand gegenüber stand eine kleine Kommode mit drei Schubladen. Er zog sie nacheinander auf und registrierte ihren Inhalt. Das dauerte nicht lange. Ein paar abgetragene Stücke Unterwäsche, eine dicke, an beiden Ellbogen gestopfte Jacke und eine leichtere in deutlich besserem Zustand, zwei Paar warme Strümpfe und noch ein altes Wollkleid, auch das in eine mit Mottenkugeln gefüllte Plastiktüte eingewickelt. Das war alles. Besaß sie nicht einmal einen Mantel? Und wie stand es mit Schuhen? Die Schuhe fand er schließlich unter dem Bett. Sie war barfuß gewesen, als sie starb; auch ihre Pantoffeln entdeckte er unter dem Bett. Folglich hatte sie wahrscheinlich geschlafen, als es passierte, und dieser Hauskittel ohne Knöpfe diente ihr zugleich als Nachthemd, was erklären würde, warum sie an jenem Tag in der vergangenen Woche während der Siesta darin am Fenster erschienen war. Trotzdem hatte sie doch bestimmt ein Sommerkleid. Hatte seine Frau das nicht erwähnt und hinzugefügt, daß sie es jeden Tag trug? Wo war es dann? Es gab nur einen Platz, wo es sein konnte, obwohl das Gerüst … Er ging ans Fenster und schaute hinaus. Ja, da hing es, im Licht der Straßenlaterne, direkt am Gerüst befestigt, gewaschen und getrocknet. Wegen des Gerüsts konnte sie es nicht auf die Wäscheleine hängen, die unter ihrem Fenster über eine Rolle lief, und auch nicht richtig hinaussehen. Hatte sie etwa das Sicherheitsnetz abgerissen, das das ganze Gerüst hätte abdecken sollen? Vielleicht doch nicht, da hier oben keine Laufplanken gelegt worden waren, sondern nur weiter unten. Schon eine merkwürdige Art, eine Arbeit nur halb auszuführen und das Gerüst den ganzen August über stehenzulassen .
Er beugte sich hinaus und holte das Kleid herein. In den Wohnungen im Haus gegenüber waren die Lichter an, und aus einem offenen Fenster hörte er einen Fernseher. Unten auf der Straße rief eine Stimme durch die heiße, von Straßenlaternen erhellte Nacht .
»Martha! «
»Was gibt’s? «
»Ich gehe zu Franco, nur falls du Zigaretten willst. «
»Dann bring mir zwei Päckchen mit, ja? «
»Wie geht es ihr? «
»Unverändert. Ich kann sie nicht allein lassen. Wenn es bloß nicht so heiß wäre … «
Der Maresciallo trat zurück und schloß das Fenster. Er betrachtete das geblümte Kleid. Das war alles, was sie besaß. Und ein Ei und eine Scheibe Wurst im Kühlschrank. Hätte nicht
Weitere Kostenlose Bücher