Tod einer Verrückten
für angebracht hielt, den Maresciallo zu stören, als gegen drei Uhr morgens ein Anruf für ihn kam, und den Anrufer an die Kommandantur am Borgo Ognissanti auf der andern Seite des Flusses verwies. Die beiden schliefen ungestört in dieser heißen Nacht, drehten sich nur hin und wieder unbehaglich auf die andere Seite, wenn ihnen selbst das weiße Laken unerträglich schwer und lästig wurde .
Hätte es irgend etwas geändert, wenn der Wachhabende ihn aufgeweckt hätte? Diese Frage sollte sich der Maresciallo in den folgenden Tagen mehr als einmal stellen. Er hatte den Eindruck, daß sich dadurch wahrscheinlich überhaupt nichts geändert hätte. Er wäre nicht aufgestanden und hingefahren, sondern hätte genauso reagiert wie der junge Mann. Fairerweise mußte er zugeben, daß er auch nur in der Kommandantur angerufen und dafür gesorgt hätte, daß sich ein Streifenwagen in der Gegend umsieht. Und der hätte berichtet, daß alles ruhig ist. Also traf niemanden eine Schuld. Trotzdem, wenn der Maresciallo den jungen Burschen immer wieder beschwichtigte: »Mach dir keine Gedanken, du hast deine Pflicht getan und konntest ja nicht wissen …«, sagte er das vielleicht eigentlich zu sich selbst .
Jedenfalls wußte bis zum folgenden Abend niemand, daß etwas vorgefallen war, und der Maresciallo kam zu einem wohltuenden Schlaf und wachte beim Klang der Kirchenglocken fröhlich auf. In der Küche stand das Fenster offen, der Espresso auf dem Herd blubberte, und der warme Duft von marmeladegefüllten Brioches, seinem Lieblingsgebäck, stieg ihm in die Nase .
»Wie ist dir denn das gelungen? Erzähl mir nicht, daß heute früh ein Bäcker offen hat. «
»Ich habe sie gestern gekauft und in ein feuchtes Tuch eingeschlagen. Fünf Minuten im Rohr, und sie schmecken wie frisch gebacken. Ich dachte, zur Feier des Tages könnten wir uns ruhig etwas Gutes gönnen, auch wenn du arbeiten mußt. «
»Es wird nicht viel Arbeit geben. «
An diese Bemerkung sollte er sich später noch ebensogut erinnern wie an den süßen, beinahe widerlichen Geruch der Brioches, der ihn dann den ganzen Fall hindurch verfolgte, weil er so viel Zeit in der Bar verbrachte, in der er gestern mit einer Kompresse auf dem Auge gesessen hatte. Vorerst jedoch genoß er das gemütliche Frühstück in der Küche und freute sich über das Licht, das durchs offene Fenster kam. Auch die Wohnzimmerfenster standen noch offen, und das Sonnenlicht sickerte durch die weißen Musselinvorhänge .
Trotzdem waren die Lichtrechtecke auf dem Boden darunter bereits warm. Gegen zehn Uhr mußte man die Fensterläden wegen der Hitze schließen, so daß das Haus für den Rest des Tages im Dunkeln lag .
»Gibt es heute auch was Besonderes zum Mittagessen? «
»Gebratenes Kaninchen. «
Er hätte gar nichts dagegen gehabt, es sich mit einer frischen Tasse Espresso im Sessel bequem zu machen, vielleicht weil diese warmen Lichtflecke und die in der ganzen Stadt läutenden Kirchenglocken eine so wohlige, sonntägliche Atmosphäre verbreiteten. Statt dessen warf er einen Blick auf seine Uhr und ging ins Schlafzimmer, um seine Uniformjacke zu holen .
Auf dem Weg in sein Büro begrüßte ihn Di Nuccio, der Tagesdienst hatte, mit einem fröhlichen guten Morgen. Die Jungen von der Nachtschicht hatten sich zum Schlafen verzogen, und der Vormittag verging wie jeder andere, nur daß es noch weniger zu tun gab als sonst. Er las das Übergabeprotokoll, in dem ein Anruf wegen einer Ruhestörung vermerkt war, der zum Borgo Ognissanti weitergeleitet worden war und sich als blinder Alarm herausgestellt hatte .
Obwohl er sein Jackett ausgezogen hatte, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, schwitzte er bis Mittag so, daß ihm die Uniform am Körper klebte; nur zu gern ließ er den restlichen stupiden Schreibkram, der anscheinend nie weniger wurde, obwohl er in letzter Zeit kaum etwas anderes erledigte, liegen, um einen Blick in den Wachraum zu werfen. Nur Di Nuccio war da. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, aber auch er hatte große Schweißflecke in den Achselhöhlen und einen noch größeren zwischen den Schulterblättern .
»Bist du ganz allein? «
»Der Junge ist raufgegangen, um mit dem Mittagessen anzufangen. «
Einer der diensthabenden Rekruten war dafür zuständig, einzukaufen und für die anderen zu kochen. Die regulären Carabinieri beklagten sich ständig, daß die jungen Männer, die hier ihren Militärdienst ableisteten, zum ersten Mal von zu Hause weg waren und nicht
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