Tod einer Verrückten
daß sie sich ganz allein abplagten, ohne sich zu beklagen. Es war noch immer schwierig, durch die Straßen zu kommen – ich habe die Stelle gesucht, die man mir im Krankenhaus genannt hatte, an der im Freien eine Apotheke eingerichtet worden war, weil ich Antibiotika und Verbandszeug kaufen mußte. Ich erinnere mich, daß ein paar Soldaten den Kadaver einer Kuh mit Seilen auf einen Lastwagen hievten und ein Mann durch den Schlamm stapfte, der eine Statue in den Armen trug wie ein totes Kind, während ich noch immer an Anna denken mußte. Was konnte sie retten? Ich beschloß, sobald ich nach Hause kam, in ihre Wohnung zu gehen und nachzusehen, ob irgendeine Kleinigkeit übriggeblieben war, die ich ihr bringen könnte – bis dahin hatten wir alle Hände voll zu tun gehabt, um den Heizkessel im Keller freizulegen. Ich habe wohl gehofft, irgendein Andenken zu finden, das ich ihr ins Krankenhaus bringen konnte. Freilich ein dummer Gedanke, aber ich wußte nicht, was ich sonst für sie hätte tun können. «
»Das war überhaupt kein dummer Gedanke. Sagen Sie, hatten Sie gehofft, etwas Bestimmtes zu finden? «
»Ich dachte, vielleicht ein Foto von der kleinen Elena. «
»Ah …«, sagte der Maresciallo zufrieden. »Genau. Aber Sie haben keines gefunden? «
»Nein. Und ich selbst hatte leider auch kein Foto von ihr, was ich sehr bedauert habe und noch bedaure. Ich habe auch sonst nichts gefunden, und die ganze Sache nahm eine recht peinliche Wendung, denn während ich da unten herumgesucht habe, kam ausgerechnet Annas Schwester. Sie können sich vorstellen, wie unangenehm mir das war, weil ich wußte, welchen Eindruck das machen mußte … Trotzdem hat ihr meine Erklärung anscheinend eingeleuchtet, denn sie kam mit hinauf in meine Wohnung, ist eine Zeitlang geblieben und hat sich mir anvertraut. Von ihr habe ich erfahren, daß man den Leichnam der kleinen Elena zwei Straßen weiter im Keller eines Hauses gefunden hatte. Sie hatte sie soeben identifiziert. «
»Und der Mann? «
»Es hat noch ein paar Tage gedauert, bis seine Leiche, die ziemlich weit weggespült worden war, gefunden wurde. Ich habe ihn nicht erwähnt, weil ich keine Ahnung hatte, wieviel die Schwester wußte und weil sie schon ziemlich mitgenommen war. Bald wurde mir klar, daß sie sich wegen Anna ungleich mehr aufregte als wegen des Kindes, dessen Tod sie eher gelassen hinnahm. Freilich hatte sie dem Kind nicht einmal so nahe gestanden wie ich. Sie kam nicht sehr oft zu Besuch. Anna sagte mir einmal, sie habe es sehr schwer mit ihrem Mann, und wegen ihm könnten sie sich auch nicht so oft sehen, wie sie wollten. Auf mich machte die Schwester den Eindruck einer tüchtigen Geschäftsfrau. Anna zufolge schlug sie nach ihrem Vater. Das konnte ich mir gut vorstellen. Ich habe sie an jenem Tag zum ersten Mal gesehen, und trotz allem, was sie durchgemacht hatte, empfand ich sie als sehr starke Persönlichkeit, die genau wußte, was sie wollte. Völlig anders als Anna, die ungeheuer empfindsam war. Sie war gut gekleidet – wie alle damals mußte sie in Gummistiefeln durch die Straßen waten, trug aber einen sehr schönen Pelzmantel. Ich selbst kann mir keine teuren Kleider leisten, aber ich habe einen Blick dafür .
Sie war eine sehr vornehme Frau, keine von denen, die sich ohne weiteres anderen Leuten anvertrauen, aber an dem Tag war sie ohne Zweifel froh, sich bei einer freundlichen Unbekannten ihren Kummer von der Seele reden zu können .
›Wenn es etwas gibt, wovor ich immer schreckliche Angst gehabt habe‹, sagte sie, ›dann, daß Anna etwas dergleichen zustößt. Ich bin ein völlig anderer Typ, und der Himmel weiß, daß ich nie ein leichtes Leben hatte, aber ich werde damit fertig. Ich weiß ja nicht, wie gut Sie sie gekannt haben, aber glauben Sie mir, das kleinste Mißgeschick genügt, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.‹ Ich sagte, daß mir das auch aufgefallen sei .
›Aber vermutlich wissen Sie nicht, was der Grund dafür ist. Meine Schwester und ich wurden in eine sehr wohlhabende Familie hineingeboren, aber wir hatten eine unglückliche Kindheit. Meine Mutter starb, als wir noch ziemlich klein waren. Ich war neun und Anna erst fünf. Das an sich genügt eigentlich schon, um ein Kind völlig zu verunsichern, aber damals hat man sich solche Sachen nicht so bewußt gemacht wie heute. Doch zu allem Unglück war Anna allein mit ihrer Mutter im Zimmer, als es geschah. Sie bekam einen Herzinfarkt, ganz unerwartet. Wir wissen nicht,
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