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Tod einer Verrückten

Tod einer Verrückten

Titel: Tod einer Verrückten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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gestiegen, wäre sie auf dem Schrank stehend ertrunken. Das muß sie die ganze Zeit gewußt haben, als sie dastand und wartete, während wir auf dem Dach waren und warteten. Wenn es schon für uns so furchtbar war, als die Dunkelheit hereinbrach und niemand kam, wie schrecklich muß es dann erst für Anna gewesen sein. Stellen Sie sich einmal vor … «
    »Aber am Morgen, ist sie da nicht heruntergeklettert? Hat sie nicht um Hilfe gerufen? Sie muß doch die Leute ringsum gehört haben, auch Ihren Mann, als er versucht hat, in die Wohnung zu gelangen. «
    »Sie ist heruntergeklettert, aber um Hilfe gerufen hat sie nicht. Ich sagte schon, daß wir an diesem ersten Morgen alle viel zu betäubt waren, um zu reden. Wirklich deutlich von diesem Tag habe ich die anderen Frauen in Erinnerung, die, genau wie ich, vergeblich die Schlammmassen wegzuschaufeln versuchten. Ab und zu hielt eine inne, um nachzusehen, ob ein Möbelstück, das draußen auf der Straße auftauchte, ihr gehörte. Wenn nicht, schaufelte sie einfach weiter, ohne daß ein Wort über ihre Lippen kam oder ihr Gesicht eine Regung verriet. Nein, Anna hat nicht um Hilfe gerufen. Soviel ich weiß, hat sie nie wieder gesprochen. Es war reiner Zufall, daß wir sie gefunden haben .
    Anfangs habe ich nicht begriffen, warum sich mein Mann vor allem anderen unbedingt vergewissern wollte, ob sich ihre Leiche noch in der Wohnung befand, wo es doch bestimmt sehr viele Leute gab, die noch am Leben waren und dringend Hilfe brauchten. Die meisten von uns standen so unter Schock, daß wir abgesehen von der unmittelbar drohenden Feuergefahr nicht an andere Gefahren wie etwa Infektionen dachten. Aber ihm war sofort klar, daß die größte Gefahr in den ersten paar Tagen die war, daß Typhus ausbrechen könnte. Niemand wußte genau, wie viele Menschen vermißt wurden, und immer wieder entdeckte man beim Wegschaffen von Trümmern Tote; außerdem waren unzählige Tiere ertrunken, Katzen und Hunde aus der Stadt und ganze Viehherden, die es vom Land hereingeschwemmt hatte, ganz zu schweigen von den Unmengen Fleisch und Fisch aus den Kellern der Markthalle. Noch Tage später waren Männer mit Gasmasken damit beschäftigt, sie zu säubern. Eine schreckliche Arbeit muß das gewesen sein; sobald man auch nur in die Nähe kam, mußte man sich Mund und Nase zuhalten, und nicht wenige mußten sich übergeben. Typhus also war der Grund, warum mein Mann unbedingt in die Wohnung wollte, Gott sei Dank, denn sonst wäre Anna womöglich eine ganze Woche da drin geblieben, bis sie mit den Geräten kamen, um den Schlamm abzupumpen .
    Das Fenster war mit so viel Zeug blockiert, daß beschlossen wurde, die Tür mit der Axt einzuschlagen. Zu dem Zeitpunkt war ich hier oben und habe versucht, das zerbrochene Fenster abzudichten, bevor es dunkel wurde. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Ich habe den Lärm gehört, als die Männer die Tür einschlugen, wußte aber nicht, was sie machten, bis mein Mann heraufkam, um mich zu holen .
    ›Kannst du einen Augenblick mit hinunterkommen? Es ist wegen Anna. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, aber es wäre mir lieber, du würdest hinunterkommen …‹ ›Du willst doch nicht behaupten, daß sie noch am Leben ist?‹ ›Doch, aber … Komm mit, ja?‹ Als wir in die Wohnung kamen, standen die Männer, die geholfen hatten, hilflos da und wußten nicht, was sie tun sollten. Anna befand sich in ihrer kleinen Küche, die der Familie auch als Eß- und Wohnzimmer hatte dienen müssen. Der Schlamm stand mehr als kniehoch, und sämtliche Möbelstücke waren umgekippt. Als ich an den Männern vorbeiging und Anna bemerkte, bückte sie sich gerade, um etwas aus dem Dreck zu fischen. Es war eine Scherbe von einer zerbrochenen Tasse, an der noch der Henkel dran war. Als sie sich aufrichtete, sah ich, daß sie selbst über und über mit Schlamm bedeckt war, sogar die Haare; sie war kaum wiederzuerkennen. In der anderen Hand hielt sie einen schlammtriefenden Lumpen, mit dem sie sehr langsam und sorgfältig die Scherbe abzuwischen begann, wie jemand, der ganz normal Geschirr abwäscht. Dann legte sie die Scherbe auf ein Bord an der Wand, sehr behutsam, so daß sie nicht herunterfiel .
    ›Anna.‹ Sie gab keine Antwort, und mir wurde bald klar, daß sie uns gar nicht wahrnahm. Sie hat einfach weiterhin Scherben und dergleichen aus dem Schlamm gezogen, sie abgewischt und irgendwo auf halbwegs waagerechten Flächen abgelegt. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, aber mir ist

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