Tod eines Eisvogels - Roman
gezackten Häupter in den tintigen Himmel.
Der Lichtschweif einer Shell-Tankstelle wischte vorbei. Um uns herum drehte eine Feierabendgesellschaft ihre Runden. Leni qualmte eine Winston nach der anderen. Im Schrittempo schoben wir uns über die Boulevards. Aus offenen Seitenfenstern dröhnte Popmusik. Leuchtschriften überall, grelles Licht aus Hoteleingängen. Dreiste, sich zwischen allen hindurchmogelnde Radfahrer, die im kleinen Seitenfenster auftauchten und kurz darauf im Rückspiegel verschwanden. Dunkler werdende Ausfallstraßen, noch einmal die Amstel neben uns und in der Luft der Geruch von verbranntem Gummi, Teer und Benzin – dann waren wir aus Amsterdam endgültig heraus und fuhren hineinin die Nacht, die erst wieder aufriß, als die Lichter des Flughafens einen orangefarbenen Kegel an den Himmel warfen. In Nieuw Vennep fuhr ich auf der Suche nach einer Unterkunft von der E 19 ab.
Mitteleuropa litt inzwischen unter einem kräftig anhaltenden Hoch. Schwüle Luftmassen standen in den Straßen. Schon morgens lasteten die Hitzewellen auf den Feldern. Übergangslos war aus dem Frühling Sommer geworden. Jedes Jahr konnte ich diese Zeit kaum erwarten, die Verwandlung der letzten lauen Maitage in eine wattige, fast stoffliche Wärme. Überall waren die Knospen bereits lautlos explodiert, und die ersten Erdbeeren leuchteten derart verlockend in den Auslagen der Obst- und Gemüseläden, daß ich gleich an das Knirschen ihrer kleinen Samen denken mußte, wenn man eine der glänzenden Früchte zerbiß.
Immer wieder schossen Elstern quer über die Fahrbahn, die schwarz-weiß die Luft durchschnitten. Auf dem Seitenstreifen standen dampfende Autos mit hochgestellten Kühlerhauben. Vor uns zitterte die Luft über dem Asphalt der Autobahn. Die Mittagssonne stach in meine Augen, wenn sie von den Autos vor uns reflektiert wurde. Auf meine nackt auf dem Gaspedal liegenden Füße blies die voll aufgedrehte Lüftung dicke, warme Ströme, während Leni ihr schweißüberzogenes Gesicht an der Seitenbelüftung zu kühlen versuchte.Klebrige Strähnen hingen ihr in die Stirn. Ihr Gesicht sah fahl und konturlos aus. Ermattet blinzelte sie. Ziellos fuhren wir durch ein helles, dunstiges Flimmern – in den Feldern nistete der Sommer.
Einmal hielten wir an, weil Leni pinkeln mußte. Als ich die Füße aus der Autotür auf den Seitenstreifen schwang, schoß ein scharfer Schmerz durch meine Fußsohlen.
Ich schob eine Kassette in den Recorder, Van Morrison, Eric Clapton, die Eagles. Leni aß Kartoffelchips, und bei jedem Griff in die schräg aufgerissene Tüte rieselte es kleine Stückchen. Auf die Plastikhüllen der Kassetten in der Mittelkonsole, auf ihre Hose, überallhin.
In der Ferne bog sich ein kobaltfarbener Postkartenhimmel über das Land, und die Sonne begann, die noch grünen Felder langsam braun zu rösten. Traktoren rumpelten durch die Rapsfelder und versanken bis unter die Kotflügel in den Blütenteppichen.
Inzwischen rauschten alte Barry-White-Songs aus den Lautsprechern, und es trug mich zurück in den durchsonnten, gegenüber unserer alten Wohnung gelegenen Hinterhof, in dem Onkel Viktor seine Werkstatt gehabt und eine grauhaarige Alte mit vier Katzen gelebt hatte, die uns Kindern im Sommer Salamibrötchen und Ahoi-Brause-Limonade ins weit geöffnete Küchenfenster stellte.
Tausendmal hatte ich still lauschend in jenem Hof gestanden, in dem ein helles Kinderlachen die träge summende Mittagsruhe brach oder sich eine dicke Libelle in die Häuserschlucht verflog. Das Lachen eines Mädchens, das nicht Leni war und das in meiner Phantasie doch jene Konturen annahm, die einmal ihre gewesen waren, damals, als hinter dem hellgrauen, schweren Hoftor in meinem Rücken – die Gasse herunter und über die Allee – auf dem Main die Schiffe und Kähne fernen Zielen entgegenfuhren, Mutter im Kaufhaus in der Kurzwarenabteilung aushalf und Leni auf ihrem Fahrrad mit Freunden durch Wilhelmsbad gondelte, damals, als die Hinterhofzeit stillzustehen schien, in der Höhe metallisch funkelnde Flugzeuge am Himmel entlangkrochen, ich mich abends in der Küche am Spülstein wusch und das Brummen der Laster von der nahen Ausfallstraße eine unbestimmte Sehnsucht in mir aufkommen ließ.
Wie oft bin ich als Junge mit den Spanierkindern in dem engen Karree Plastikbällen nachgejagt, rotschwarz oder blau-weiß durchs Sonnenlicht wirbelnden Kugeln, die immer wieder gegen die Scheunentür rumsten und alle Anwohner zur Verzweiflung
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