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Tod eines Eisvogels - Roman

Tod eines Eisvogels - Roman

Titel: Tod eines Eisvogels - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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des Aufpralls, das hat uns Mutter damals aus der Zeitung vorgelesen, hatte ihn einige hundert Meter weit auf einen parallel zu den Gleisen verlaufenden Fahrradweg geschleudert. Warum Raimund sich das Leben genommen hatte, haben wir nie erfahren.
    Raimund war ein ernsthafter Junge mit wachsamen, gutmütigen Augen und langen, gebogenen Mädchenwimpern, die mich an sich schließende Schmetterlingsflügel erinnerten. Mir hat er damals die ersten Zimtkaugummipäckchen aus der PX mitgebracht, in der seine Mutter als Kellnerin bei den Amerikanern arbeitete. Seinen Vater, einen in die Staaten zurückgekehrten GI, hat er nie gesehen.
    Leni sah nur still an sich herunter, als sie von Raimunds Tod erfuhr. Ich weiß aber, daß sie ihn mochte. Seine Desmond-Dekker-Platten hat sie tagelang in unserer Musiktruhe abgespielt.
    »Was ist denn das für eine Negermusik?« hatte Mutter gerufen, als Raimund die Platten das erste Mal auflegte. Daraufhin hatte er so heftig lachen müssen,daß ihm der kleine Toupierkamm fast aus der Afromatte gerutscht wäre.
    Mir hat er meine erste Barry-White-Single geschenkt, und einmal habe ich ihn an Silvester zu uns nach Hause zu Kartoffelsalat und Wiener Würstchen eingeladen. Nach drei Gläsern von Mutters Pfirsichbowle drehten die Fernsehbilder vor unseren Augen wilde Pirouetten.
    Sein Bruder hat es mir bis zuletzt verübelt, daß ich ihn nicht auch eingeladen hatte. Vor James habe ich immer Respekt gehabt, genaugenommen aber war es Angst.
     
    Leni sah schlecht aus. Ihre Haut spannte über den Knochen. Trotz der lauten Musik war sie neben mir eingenickt. Und so fuhren wir immer weiter, vorbei an Industrieanlagen, Hotelkomplexen und in der Sonne dösenden Kühen, vorbei an Raststätten und endlosen Rapsfeldern; Blütenteppichen wie jene, in denen ich als Junge hinter dem alten Wasserwerk ganze Nachmittage lang herumgetobt war, einem Schwalbenschwanz nachlief, der leuchtend über die Blüten flatterte, sich da oder dort kurz niederließ, und mit klopfendem Herz mein Netz über ihn in Stellung brachte.
    Noch mit fünfzehn bin ich den Schmetterlingen nachgerannt, um sie zu fangen, anfangs nur den heimischen Faltern, bis wir mit Onkel Viktors rotem Rekord1900 nach Jugoslawien, nach Porec gefahren sind und ich das erste Mal einen Segelfalter und einen Windenschwärmer sah.
    Angefangen hatte alles mit einem Pfauenauge, das sich in unsere Küche verflog. Seine stahlblauen Augenflecken leuchteten auf den karminroten, innen leicht behaarten Flügeln, und als Onkel Viktor den Falter fing und mich durch das kleine Guckloch seiner zur Kugel geformten Hände auf ihn schauen ließ, da machte er mich zum Sammler.
    Er zeigte mir, wo und wie man die Stecknadel in den kleinen Chitinrücken stößt und die Flügel auf einem stabilen Pappkarton mit einer Fülle von Nadeln so präpariert, daß sie ausgebreitet bleiben. Bald baute er mir in seiner Werkstatt richtige Spannbretter mit einer wenige Zentimeter breiten Mittelrinne für den Körper der Falter und den zu beiden Seiten hin leicht ansteigenden Holzflächen für die Flügel. Hatte man den Falter in Position gebracht und seine ausgebreiteten Flügel in der gewünschten Stellung fixiert, wurden kleine Plexiglasscheiben vorsichtig darauf gelegt und an der Seite mit Klämmerchen unter Spannung gesetzt. Hinterher wurden die Falter zum Trocknen oben auf den Wohnzimmerschrank gestellt.
    Noch heute beglückt es mich, wenn ich in einer Parkanlage den ersten Aurorafalter sehe, der im hellen Frühlingslicht seine Runden dreht, sich auf einemGänseblümchen oder einer Löwenzahnblüte niederläßt, und seine orange-weißen Flügel betörend leuchten; oder im Herbst einen Admiral, der auf heruntergefallenen, im letzten Altweibersommerlicht gärenden Äpfeln sitzt, den süßen Saft mit seinem fadendünnen Rüssel trinkt, und die Spinnweben in der Luft wehen.
    Heute stehen die Schaukästen mit den Schwalbenschwänzen und den Großen Eisvögeln, den Distelfaltern, den Apollos und Kaisermänteln in Tücher gehüllt neben dem Kleiderschrank im Schlafzimmer meiner kleinen Wohnung. Doch wenn ich sie aus einer Laune heraus wieder einmal hervorhole, dann sehe ich vor mir: Rittersporn und Malven, zwischen Klatschmohn, Kornblumen und Bärenklau hin und her trudelnde Distelfalter, und die langen, lichtdurchfluteten Nachmittage, an denen ich mit Leni und ihrer Freundin Miriam mit Netz und Sammelbüchse durch die hohen Wiesen am Main streifte und Leni nach jedem Bläuling schlug, der vor

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