Tod eines Eisvogels - Roman
Weckers über dem Radio zeigte null Uhr sechzehn.
»Es soll endlich regnen!« hatte sie im Auto gestöhnt.Seitdem waren viele Tage vergangen, und Leni kämpfte sich durch eine Art Schlaf. Bis es dämmerte, lag ich wach und lauschte den schweren Atemzügen meiner Schwester.
VIERZEHN
Wir mußten oft lachen, wenn Leni davon erzählte, wie die Ärzte sie im Heim alle vier Wochen fragten: »Wie geht es Ihnen körperlich, hören Sie Stimmen?« Und sie manchmal blöd tat, um dann aber doch mit »Gut« und »Nein« zu antworten.
Ich stellte mir dabei immer eine kleine Gruppe übermüdeter, blaßhäutiger Männer in weißen Kitteln vor, die auf quietschenden Kreppsohlen über die nach Desinfektionsmittel riechenden Flure liefen; eine Bande Ahnungsloser, die die von Zeit zu Zeit rebellierenden Seelen ihrer Schützlinge mit Neuroleptika niederrangen oder in ihrer Hilflosigkeit Pfleger auf sie losließen, wenn eine Epileptikerin einen Anfall hatte oder eine delirierende Alkoholikerin randalierte. Meine Schwester haben sie mehr als einmal verprügelt.
Wie konnte man sich dort zu Hause fühlen, fragte ich mich, wenn man über die Zeit nicht vergessen hatte, daß es einmal etwas anderes gegeben hatte alsArbeitstherapien, Zigarettenrationierungen, festgelegte Ausgangszeiten oder streng überwachte Körperpflege. Leni hat mich lange Zeit beneidet und sogar manchmal dafür gehaßt, daß ich jenes Leben führte, das ihr von einem auf den anderen Tag weggebrochen war. Und erinnerten sie Gespräche an das Mädchen, das sie einmal gewesen war, zog sie unruhig an ihrer Zigarette, glaubte man, ein schwaches Zittern an den Enden ihrer Sätze zu spüren.
Sie hat nie viele Worte gemacht, kam alle vierzehn Tage zu Besuch und verschwand mit einem knappen »Danke für alles«, in ihrer Sporttasche eine Büchse löslicher Kaffee, eine Stange Zigaretten und eine Prinzenrolle.
Zu Weihnachten bekam sie von Mutter neben den Süßigkeiten und Zigaretten meistens Unterwäsche geschenkt, bei HANSA günstig erstandene Sachen, in die sie ihr, im Wohnzimmer sitzend, Etiketten mit unserem Namenszug nähte, wobei sie das Weihnachtsoratorium von Bach hörte. Und saßen wir nach der Bescherung – wie all die anderen Jahre zuvor auch – zusammen, machten bald Mutters immer gleiche Anekdoten aus unserer Kindheit und Jugend die Runde; Geschichten, die wir längst auswendig konnten: ich, im Kindergarten für eine Aufführung als Storch verkleidet, hilflos und zum Totlachen, in roten Wollstrumpfhosen, schwarzem Röckchen, und um denKopf einen langen, roten Pappmachéschnabel geschnallt; Leni, die Schäfers frischgewaschenen Ford Taunus mit Schlamm vollschmiert und von ihm eine Tafel Schokolade bekommt, damit sie damit aufhört; und wieder ich, als Sechsjähriger am Küchentisch mit meinem aufgeschlagenen Bilderbuch »Der kleine Waldläufer«, wo ich Onkel Friedel zeigen soll, wie gut ich lesen kann, und unter seinem nicht enden wollenden Gelächter bitterlich weinend vor dem Wort »Feuer« kapituliere, weil ich es nicht herausbringe; mehr als ein Leben zurückliegende, doch immer neu von Mutter hervorgeholte und unsere eigenen Erinnerungen überlagernde Geschichten, die von Jahr zu Jahr unglaubwürdiger erschienen. Trotzdem taten wir ihr stets den Gefallen, an Heiligabend das Abgedroschene immer neu lustig zu finden, entsprachen in eingeübter Beschwingtheit dem, was wir in ihren Augen einmal gewesen waren.
Besuchten wir Leni im Heim, schlich sie uns meist käsig entgegen, vorbei an den Debilen, die auf den Fluren lungerten und lallend ihre Gesichter aufrissen. Ihre Umarmung war meist fügsam und schlaff.
Man hat sie geschlagen und getreten, aus Hilflosigkeit gedemütigt. Doch selbst Mutter in ihrer hysterischen Fürsorge hat Leni nicht zermürben können, wenn sie wieder einmal abgehauen war und die Polizei sie in irgendeinem heruntergekommenen Hotelaufgriff. Dann erwog Mutter in ihrer Verzweiflung alle nur erdenklichen gerichtlichen Maßnahmen; zu der von ihr vielbeschworenen Entmündigung ist es allerdings nie gekommen.
Nun aber lag meine Schwester einige hundert Kilometer von Mutters bröckelnder Liebe entfernt in steinschwerem Schlaf, trieb dahin in kräftezehrenden Fieberträumen.
Unsere Fahrt hatte sie noch einmal an einige Schauplätze ihrer Jugend bringen sollen, an Orte, durch die sie mit ihrem Rad gefahren und an denen sie glücklich gewesen war. Diese Plätze haben wir nicht mehr gefunden. Draußen war es immer noch dunkel und still. Wie ich
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